12 - MEIN RÜCKZUGSORT

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Sie erstarrt allerdings sofort, als sie meine Gestalt erblickt. Die Deckenbeleuchtung über uns spendet genug Licht, um das Gefühlschaos in ihrer Miene abzulesen. Sie scheint kurz davor, in Tränen auszubrechen. Sie so zu sehen, tritt auch etwas in mir los. Ich halte es nicht länger aus und murmele: »Es tut mir leid.« In diesem Augenblick setzt sie ebenfalls an: »Tut mir so leid.«

Damit habe ich nicht gerechnet. »Du musst dich nicht entschuldigen. Man reagiert manchmal kurz wütend, wenn man sich eigentlich mehr erhofft hat. Und ich hätte wirklich mehr zu dir-«

Sie unterbricht mich Kopf schüttelnd. »Davon rede ich nicht. Junis ist-« Yuna schluckt schwer und zeitgleich schallen in mir alle Alarmglocken. Es existiert nur noch ein Wort in meinem Kopf – ich muss handeln. Dabei vergesse ich sie nach näheren Details auszufragen und renne stattdessen in den Eingangsbereich, von wo Yuna gekommen ist. Zu jeder Seite umschauend, suche ich Junis, doch entdecke ihn nirgends.

»Er ist unten bei den Bettlaken und Bezügen.« Ich habe gar nicht bemerkt, wie sie die Tür geöffnet hat und neben mir steht. »Im ... Behälter für die Wäsche.«

Was zur Hölle? Mein Verstand redet sich ein, wie überrascht er über diesen Umstand ist, aber im Grunde habe ich es kommen sehen. Die Anzeichen, wie grauenhaft Junis von seinen Mitschülern behandelt wird, sind da. Und ich weiß, was Jugendlichen in dem Alter zuzutrauen ist. Es schüttelt mich, diese vergangenen Bilder mit Junis Gesicht zu sehen.

Wie er zusammenkauernd am Boden liegt, schluchzt, und von niemandem gehört wird. Während er sich mit den Händen über den Körper streicht, überlegt er, wann sich etwas ändern wird. Ob er weiterhin an stummen Gebeten festhalten soll oder akzeptieren, dass sein Schicksal längst in Sand gemeißelt ist. Er grübelt darüber nach, was an ihm verkehrt ist und vergleicht sich mit Mitschülern. Der Unterschied ist, dass sie feiern gehen, Fußball spielen und Freunde treffen, während er sich lieber auf seinem Zimmer mit einem spannenden Buch einschließt.

Noch weiß er nicht, dass es dort draußen unzählige weitere Personen wie ihn gibt und sie nur nicht laut genug sind, um sich zu melden. Das, was laut ist, sind die Schmerzen in der Brust und ein zu schnell hämmerndes Herz.

Ich erreiche die Wäschekiste mit einem Tunnelblick. Bereite mich auf alle potenziellen Horrorbilder vor, die ich kenne, und bin doch unvorbereitet, als ich Junis seitlich auf dem Spannbetttuch liegen sehe. Ein kleiner Blutfleck, der von seiner tropfenden Nase stammt, zieht mich zuerst in den Bann. Er ist wach, aber dennoch reglos. Aufgeben, einfach aufgeben. Irgendwann bleibt einem nichts anderes übrig.

Ich strecke die Hand nach ihm aus, nicht weit genug für eine Berührung, trotzdem registriert er sie. Sein Kopf dreht sich zu mir. In seinen Augen ist Leere. Kein Kummer, keine Tränen. Daran erkenne ich, dass es nicht der erste Vorfall war. Sanft kippe ich die Wäschekiste mit einer Hand um, mit der anderen greife ich nach Junis Arm. Er ergreift sie und windet sich langsam aus dem Inneren der Kiste. Als er steht, ziehe ich ihn sofort fest zu mir. Damit er nicht fällt, aber auch um mich von seiner Wärme einnehmen zu lassen. Er riecht nach zuhause, dem Waschmittel, das Larissa Jahre benutzt hat und dem Shampoo, das wir benutzen, seitdem ich vom Alten Kopfjucken bekommen habe.

Er versenkt seine Nase in meine Halsbeuge und da weiß ich, was in seinem Kopf vor sich geht: Bring mich nachhause. Wäre ich an seiner Stelle, würde ich es keine Sekunde länger aushalten. Und trotz all der wundervollen Aktivitäten, die wir geplant haben, damit dieser Vorfall hoffentlich der Letzte ist, würde ich ihm seinen Wunsch erfüllen. In dieser Nacht noch säße er im Zug zurück, doch er schweigt.

»Du musst es nur zu sagen«, biete ich daher von mir aus an. »Dann schicke ich dich nachhause.«

Ich streichele ihm ein letztes Mal behutsam über den Rücken, ehe ich ihn wieder frei gebe. Ein dezentes Lächeln zeichnet sich auf seinem Mund ab, das die Augen nicht erreicht. »Ist schon okay, Papa. Sie haben den Fehler gemacht, nicht ich.«

Peinlich berührt stelle ich fest, wie falsch ich an die Sache herangegangen bin. »Sag mir nur die Namen und ich schicke jeden von ihnen sofort nachhause.«

Und mir ist es egal, wenn sie mich beschuldigen, parteiisch zu sein und mir vorgaukeln wollen, nicht beteiligt gewesen zu sein. Ich werde sogar Yuna ans Herz legen, jeden von denen zu einer Klassenkonferenz einzuladen. Und obwohl ich in der Klasse kein Fachlehrer bin, ich würde mich hineinschleichen, nur um Regina ans Herz zulegen, sie von dieser Schule auszuschließen. Hart, aber fair.

»Lass gut sein«, murmelt Junis. »Wer mir das Wort Homo an die Stirn schreibt, weil er annimmt, das könne eine Beleidigung für mich sein, hat schon genug Probleme. Habe mich zwar noch nicht im Spiegel gesehen, aber ich wette, es ist sogar falsch geschrieben.« Mir missfiel es, dass er versucht, die Situation durch Witze aufzulockern. Die Sache ist verdammt ernst. Dennoch erfüllt es mich mit Stolz, wie reflektiert er in seinem Alter da herangeht. So war ich nicht.

Leider hat er unrecht. Die Arschlöcher haben das Wort richtiggeschrieben. Wahrscheinlich nur, weil sie eine begabte Deutschlehrerin haben. Ich befeuchte meinen Finger, um die Hälfte des rechten Strichs vom H wegzuwischen. »Ja, sie haben es kleingeschrieben. Ob ich sie zurück in Klasse 2 schicke, damit sie nochmal die Nomen lernen?«

Er nickt lächelnd.

»Okay, du willst nicht, dass ich sie von der Klassenfahrt ausschließe. Dann solltest du aber überlegen, ob du dir das hier weiterhin antust.«

Die Schultern zuckend redet er den Vorfall klein. »So schlimm war's nicht. Außerdem möchte ich bei dir bleiben.« Gerührt ziehe ich ihn ein weiteres Mal an mich. Andere Eltern würden vielleicht Panik schieben, wenn ihr Sohn keine Freunde hat und zu sehr klammert. Ich nicht. Alles ist einfach nur verständlich. Er hat in jungen Jahren seine Mutter verloren. Hoffentlich fürchtet er sich nicht davor, mich auch zu verlieren.

»Du bist mein liebster Rückzugsort, Junis. Nicht mein Computer mit all seinen Geschichten und erst recht nicht die Schule. Du. Ich glaube, wir sind uns ziemlich ähnlich. Deshalb rate ich dir, nicht so viel darüber nachzudenken, was andere glücklich macht und auch mal an dich zu denken.«

Meine Aussage mit dem An-sich-selbst-Denken ignorierend, drückt er mich fest an sich. »Und du bist meiner.«

Auf der Suche nach weiteren Verletzungen, die die Arschlöcher ihm zugefügt haben, finde ich eine leichte Aufschürfung am Ellenbogen. Die blauen Flecken werden alt sein, aber wer sagt mir, dass keine Neuen hinzukommen werden? Ich schwöre mir, ab jetzt ein verschärftes Auge auf ihn zu haben und alle anderen Lehrer ebenfalls zu informieren.

»Es ist wirklich halb so wild. Ich habe sogar eher das Gefühl, es wird besser. Camilla ist auf der Klassenfahrt irgendwie netter als sonst.« Ich erinnere mich an sie und werde neugierig. Am liebsten würde ich ihm jetzt weitere Fragen stellen, aber die Erschöpfung in seinen Augen ist nicht zu übersehen.

»Das freut mich. Und irgendwann sehen es die anderen hoffentlich auch. Würden sie dich so kennen wie ich, dann wäre es unmöglich, dich nicht zu mögen.« Vielleicht ist die Schleimspur etwas zu dick aufgesetzt, dennoch meine ich jedes Wort ernst.

Junis verdreht die Augen und stößt mir mit seinem Ellenbogen leicht in die Seite. »Klar siehst du das so, weil du mein Vater bist.«

»Das stimmt zwar, trotzdem ist es die Wahrheit. Was übrigens auch stimmt, ist, dass deine Augenringe ganz groß sind. Geh schlafen. Morgen wird ein besserer Tag.« Die Überzeugung in meiner Stimme glaube ich noch selbst nicht, aber ich arbeite daran. Spiele mir Yunas Optimismus ab, der sagt: Jeder bewirkt etwas mit seinem Handeln. Wir müssen nur damit anfangen.

𑁍 𑁍 𑁍

Noch 3 Kapitel bis Teil 1 endet. Nach dem ONC werde ich dann am zweiten Teil weiterschreiben. Falls ihr den Teil noch lesen möchtet, solltet ihr das allerletzte Kapitel (15) noch nicht lesen.

 Falls ihr den Teil noch lesen möchtet, solltet ihr das allerletzte Kapitel (15) noch nicht lesen

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