9 - ANREISE BEI REGEN

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»Junis sitzt neben Camilla«, informiert sie mich. Camilla? Einem Mädchen? Ich drehe mich um, auf der Suche nach ihm. Er hat sich in die vorletzte Ecke zurückgezogen. Dort ist ein Mädchen mit langen, welligen, rostbraunen Haaren. Wow, die breite Masse würde sie wohl als überdurchschnittlich hübsch abstempeln und mit etwas Glück sogar für einen Werbespott casten. Geht er mit ihr aus? Bislang hat er mir sie noch nicht vorgestellt, aber in dem Alter heißt das nichts. Jetzt bin ich neugierig geworden.

»Hängen sie schon länger miteinander ab?«, frage ich Yuna.

»Nein, das sehe ich jetzt zum ersten Mal. Sie reden sogar.«

Es freut mich, dass er mit jemandem in Kontakt steht. Möglicherweise unterscheiden sich unsere Schulzeiten doch voneinander. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Ich verstecke es vor Yuna, indem ich die vorbeiziehenden Autos auf der Straße zähle.

Zumindest so lange, bis ich ein gedehntes Seufzen ihrerseits vernehme. Was habe ich jetzt schon wieder verbockt? »Hörst du die gar nicht?«

Ich lausche den Stimmen der Schüler, dem Plätschern des Regens und dem Brummen des Motors. Alles vollkommen normal, oder? »Die Donnerschläge?« Ich schaue in den Himmel. Eben hat es kurz geblitzt, aber ein Donnern habe ich bislang noch nicht gehört.

»Nein, das Tuscheln der Schüler.« Ich drehe mich um. Das Gespräch ein paar Sitzreihen hinter uns stellt sich tatsächlich ein.

»Stört mich jetzt nicht. Und ... wenn ich mich nicht verguckt habe, ist es bei dir in der Klasse nicht lauter? Auf Klassenfahrten muss nicht jeder schweigen«, mir bleiben die restlichen Worte im Hals stecken, als ich ihren bösen Blick aufschnappe. Warum rede ich mich bei ihr immer ins Fettnäpfchen?

»Das meine ich nicht! Du hättest dich neben Lisa oder Albert setzen sollen. Vielleicht hast du es nicht mitbekommen, aber die 7b ist mitten in der Pubertät. Sie fantasieren über die abwegigsten Dinge.«

Für einen kurzen Augenblick verstehe ich nicht, was sie mir mitteilen will. Dann verarbeite ich ihre Worte und in meinem Gehirn legt sich ein Schalter um. Oh. Ich quetsche die Hände zwischen die Beine. »Was?« Das Lachen, das mir entfährt, klingt gruselig verstellt. »Wie kommen sie denn darauf?« Ich überlege, ob ich Yuna in der Anfangsphase mal einen Blick zu geworfen habe, den die Schüler falsch interpretiert haben. Sie haben meine Faszination für ihr Arbeiten mit Verliebtheit verwechselt.

»Es sind Schüler. Die gucken zu viel Fernsehen und sehen noch alles durch eine rosarote Brille«, brummt sie verstimmt. Die Vorstellung von uns beiden zusammen scheint sie gewaltig zu stören. Offensichtlich, schließlich kann sie mich nicht leiden. Ich wünsche mir, sie würde endlich wieder zurück zur Grundschule geschickt werden – da, wo sie hingehört.

Mein Leben ist vorher viel leichter gewesen. Ich hasse es, wie sie es geschafft hat, mich zu dieser Fahrt zu überreden und dabei bleibe ich trotzdem der Böse. Etwas scheine ich an mir zu haben, das mich nicht gerade zu einem Sympathieträger macht. Online ist das anders. Leser lieben meine Bücher und überhäufen mich häufig mit Komplimenten. Zumindest meistens. Das sind aber alles Kommentare, die sich auf meine Arbeit und nicht auf meine Persönlichkeit beziehen. Im echten Leben habe ich versagt.

Den Rest der Fahrt schweigen wir. Ich bin ein Loser im Smalltalk und sie will offenkundig nicht mit mir reden. Nach Vellsmarsch sind es zwei Stunden – für mich allerdings eine gefühlte Ewigkeit. Ab und zu wage ich es, das Hörbuch weiterzuhören. Zumindest so lange, bis Yunas urteilende Blicke von der Seite mich auffressen. Einstöpseln, ausstöpseln – so treibe ich mich eine Weile in den Wahnsinn.

Umso länger wir fahren, desto flacher wird das Land. Am liebsten würde ich die Fenster herunterfahren. Es gibt nichts Schöneres als frische Meeresluft, die einem um die Nase weht. Mein allererster Roman hat damals an einer Küste im Süden von England gespielt. Seit Larissas Tod bin ich nicht mehr ans Meer gefahren, Junis ebenso wenig. Er hat sich diese Pause verdient.

NOT this time [ONC]Where stories live. Discover now