6 | Wiederbegegnung

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Zwei Wochen lang sah sie mich nicht an. Ich lief ihr über den Weg, ich sah sie an, ich lächelte, doch von ihr kam keine Reaktion. Ich sah sie an, sah, dass sie mich gesehen hatte und schaute instinktiv weg, nur um kurz darauf wieder herzuschauen. Keine Reaktion. Was hatte ich getan? Hatte ich etwas kaputt gemacht? Würde sie nie wieder etwas mit mir zutun haben wollen? Hatte sie nun erkannt, dass ich nur ein nerviges aufdringliches Stück war, was sie nicht in Ruhe lassen wollte?

Ich träumte von ihr. Ich zeichnete sie. Ich dachte nach. Dachte an sie.

Chor. Proben. Jedes Mal sah ich zu ihr herüber. Sie saß neben meiner Schwester. Jedes Mal. Jeden Tag sah sie anders aus. Anderes Outfit. Anders gestylte Frisur. Anderes Make-Up. Jedes Mal einzigartig. Cool. Hübsch.

Ob sie merkt, dass ich zu ihr herüber schaue? Was sie wohl denkt? Schaut sie zu mir?

Ich studierte sie. Sah sie genau an wenn sie sang. Machte mir innerlich Notizen, wie sie aussah. Dunkle Augen. Rundes Kinn. Augenbrauen dunkel, vorne breit, hinten schmal. Spitze Mundwinkel beim Lächeln. Mal glatte Haare hinten. Mal nach hinten gestylte Stirnfransen. Mal luftige Haare. Mal gewellt. Ihre Figur groß. Lockere Hosen, schwarz. Rollkragenpullover.
Beim Singen erhobenen Kopf. Ein Lächeln. Strahlen. Funkelnde Augen. Ich hörte sie. Hörte wie sie sang. Ihre Stimme eine Perle. Schillernd, glatt, rund, kostbar.
Jeden Tag aufs Neue. Ich, zu ihr herüberschauend. Sie, singend. Sie betritt den Saal, geht auf ihren Platz. Ich sehe sie an. Hat sie mich gesehen? Hat sie gesehen, dass ich sie angesehen habe? Sieht sie mein Lächeln?

Doch eines Tages war sie vor mir da. Wie gewohnt saß sie neben meiner Schwester. Ich betrat den Saal. Wollte zu meinem Platz gehen. Meine Schwester begrüßte mich. Hallo, Esther! Hallo, Alida! Ich begrüßte meine Schwester ebenfalls. Neben ihr saß sie. Wie jedes Mal. Hi!, sagte sie. Sie lächelte. Sie sah mich an. Ich sah sie an. Lächelte. Strahlte. Hi!

War das Eis gebrochen? Zumindest ein kleiner Riss war in der Oberfläche entstanden. Sie hatte mich begrüßt. Nach so langer Zeit. Sie hatte mich angesehen. Nach so langer Zeit.

Noch mehr Tage vergingen. Die finale Aufführung rückte immer näher. Generalprobe.
Jede Probe hatte ich zu ihr herüber geschaut. Hatte mir den Hals verrenkt, um sie sehen zu können. Sie zu studieren. Sie mir einzuprägen. Doch diesmal nicht. Ein Mädchen, was einen immer anstarrte, sobald man den Blick zur Seite wendete. Ein Mädchen, was, egal was gerade passierte, immer den Kopf zu einem gewandt hatte, nie den Blick abschweifen ließ. Ständig beobachtend. Im Visier habend. Wirkte das nicht seltsam? Wirkte das nicht unheimlich? Verdächtig? Fragwürdig?

Also ließ ich es sein. Ich sah nicht mehr zu ihr herüber. Sah sie nur noch an, wenn sie mein Blickfeld passierte. Wenn sie aufstand, den Raum verließ, wieder hereinkam. Sie hatte zwei kleine Zöpfe im Nacken. Ihre Haare gerade so lang, dass man sie flechten konnte. Niedlich. Ihre dunklen Augen. Die von weitem nicht sichtbare Narbe über ihrer Lippe und Wange. Woher die wohl stammte? Oft hatte ich mich das gefragt, doch sie wagte ich nicht zu fragen.

Über Narben zu fragen fühlte sich komisch für mich an. Esther, woher hast du diese Narben an deinem Handgelenk? Ach, weißt du, ich hab da mal versucht, mir die Pulsader durchzuschneiden. Doch leider wusste ich damals nicht, dass ich die falsche Ader durchschneiden wollte. Ich hätte die daneben nehmen sollen.

Nach zweieinhalb Stunden hatten wir Pause. Alle strömten aus dem Saal, eilends zum Mittagessen zu kommen. Ich stieg die Treppen herab, in Gedanken versunken. Plötzlich eine Hand an meinem Rücken. Hallo! Da war sie. Sie redete mit mir. Hallo! Ganz überrascht begrüßte ich sie ebenfalls. Wie geht's dir? Wie war deine Ferien? Sie sprach Deutsch. Mir geht's gut!, sagte ich. Es war schließlich nur Smalltalk, ich kann doch nicht meine gesamte emotionale Lage in so einer Situation preisgeben. Meine Ferien waren ganz schön, und deine? Wie geht's dir? Warst du weg in den Ferien? So viele Fragen auf einmal zu stellen, war vielleicht bisschen unbeholfen von mir. Doch besser ich stellte welche, als nur auf ihre zu antworten. Mir geht's gut, ich habe sehr genossen die Ferien, antwortete sie. Wir waren jetzt fast unten, unsere Wege würden sich wieder trennen. Habe viel geschrieben an meiner Arbeit, aber noch nicht fertig...
Ich musste nun nach links und sie nach rechts.
Naja, man sieht sich!, rief sie mir noch zu.
Ja, ciao!

Schmetterlinge. Überall Schmetterlinge. Sie flatterten wie wild in meinem Bauch, in meiner Brust, überall.

Bestimmt hatte ich mir nur eingebildet, dass sie mich ignoriert hat. Sie hat ja schließlich viel zu tun. Und wie gesagt, ich bin ja keine große Sache in ihrem Leben. Doch sie hatte mit mir gesprochen. Sie hatte mich angesprochen.

A new love storyWhere stories live. Discover now