2 | Gesang und Tanz

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Die Aufführung rückte immer näher. Ich war aufgeregt. Ich würde meine Schwester singen hören und - sie. Ich wollte sie unbedingt wieder singen hören. Ich wollte nie wieder aufhören, sie singen zu hören. Ich wollte sie ansehen. Sie ansehen und dabei einen Grund nennen zu können, weshalb ich sie ansah.

Schließlich war der Tag gekommen, oder besser, der Abend. Meine Schwester sang. Ihre Stimme wie klares Wasser. Eine frische Quelle im Wald, auf der die Sonne in kleinen Flecken reflektiert. Meine Augen ganz feucht. Das ist meine Schwester. Wie habe ich solche Schönheit in ihr nie entdeckt? Tosender Applaus. Ich wollte aufstehen. Wollte jubeln. Ihr zurufen. Ich klatschte. Wie jeder andere Mensch auch. Doch in meinem Innerem war etwas aufgegangen. Sie hatte mich berührt. Ich hatte sie auf eine ganz sensible, feine Art wahrnehmen können und das hatte mich berührt. Wie sie die Bühne verließ. Ein leichtes verlegenes Lächeln auf den Lippen. Gerader Rücken. Leicht geneigter Kopf. Ein sanfter Hauch in den Haaren. Sie ist so wunderschön.

Die Aufführung ging weiter. Es gab niemanden, der mir nicht gefiel. Jede Nummer war so einzigartig und wundervoll, dass ich oft zu Tränen gerührt dasaß, mit einem leichten Schmunzeln zusah oder voller Ehrfurcht und mit angehaltenem Atem der Musik lauschte.
Und schließlich kam sie. Sie war die vorletzte Nummer. Sie trat auf die Bühne, eine Gitarre unter dem Arm und einen Zettel im der Hand. Guten Abend liebe Gäste, sagte sie mit ihrem wundervollen Akzent und lächelte. Ich lächelte ebenfalls. Sie sieht mich nicht, ich weiß, doch ich sehe sie. Lass uns so tun, als gäbe es nur uns zwei. Als wüsstest du von mir. Als würdest du auch so empfinden wie ich. Und dann begann sie zu singen. Es war wie der Gesang einer Elfe.
Ich hielt den Atem an. Etwas Schöneres hatte ich noch nie gehört. Sie sang, ihre Augen geschlossen, vertieft in die Musik. So fein. So zart. So zerbrechlich. Und doch so stark.

Es vergingen zwei Monate. Das Schuljahr neigte sich dem Ende zu. Der Abschlussball stand vor der Tür. Es war das erste Mal, dass ich zu einem Ball an dieser Schule gehen würde, und ich war aufgeregt. Ich freute mich. Manchmal dachte ich an sie, doch die Vorfreude auf den Ball war groß genug, um meine Gedanken für einen Moment von ihr zu lenken.

Es war ein wundervoller Abend. Ich vergaß meine Unsicherheiten, meine Selbstzweifel, meine ganzen Probleme, die doch immer so präsent in meinem Leben waren. Ich hatte Spaß. Ich war glücklich. Ich tanzte. Ich lachte. Und dann - dann lief sie mir über den Weg. Nein, sie tanzte direkt auf mich zu. Sie lachte und begrüßte mich. Sie umarmte mich. Sie freute sich, mich zu sehen. Meine Freude war unbeschreiblich. Sie tanzte mit mir! Wir hatten keinen Körperkontakt doch wir sahen uns an. Wir bewegten uns zur Musik. Ausgelassen lachend, ohne Sorge, wie wir wohl rüberkommen könnten, ob wir komisch tanzten, ob es seltsam wäre, dass wir miteinander tanzten. Niemanden interessierte es. Sie komplimentierte mein Kleid und ich lächelte. Ich wollte ihr am liebsten sagen, wie hübsch ich sie fand, ihr Outfit, ihr Gesicht, ihre Ausstrahlung, doch ich sagte nichts davon. Ich wusste nicht, was es war, doch ich war gehemmt. Irgendetwas in mir hatte Angst, sie könnte mitbekommen, wie ich sie bewunderte, und sie könnte mich ablehnen. Ich war so glücklich, dass sie mich gesehen hatte und dass sie zu mir gekommen war, dass sie etwas mit mir zu tun haben wollte, dass ich jemand war für sie, und deshalb wollte ich das nicht kaputt machen.

Wir tanzten in der Menge und so kam es, dass wir schon bald wieder voneinander getrennt wurden und sie sich anderen Menschen zuwandte. Doch der Abend war so wundervoll, dass es okay war, dass es nur ein so kurzer Moment war. Er war da, er war passiert und ich hatte eine Erinnerung geschaffen, die ich niemals loslassen würde. Ich war erfüllt von Glück.

Doch das war nicht das letzte Mal, dass wir uns an diesem Abend begegneten. Es war schon sehr viel später, als ich hinaus ging, um frische Luft zu schnappen. Ich wollte gerade in den Park gehen, als sie auf mich zugelaufen kam.
Hey! Are you okay?, fragte sie mich. Yeah, yeah, I'm fine. Ich lächelte. Can I walk with you?, fragte sie mich. I just need, ich wedelte mit der Hand in der Luft herum. Fresh air, wollte ich sagen. Oh, you need to be alone?, fragte sie mich. It's fine, I can leave you alone if you want to. Sie hatte ein Glas mit einer rosafarbenen Flüssigkeit, vermutlich Rosé, und eine Zigarette in der Hand. Sie stand schon draußen als ich rausgekommen war und sie war auf mich zugelaufen. No no! I just - it's really warm in there and I need to cool down. Gerade noch gerettet. Sie wollte mit mir eine Runde gehen! We can walk like this, sie deutete eine kleine Runde durch den Park. Sure! Ich strahlte. Wir gingen los. Es nieselte und eine kühle Brise fuhr über meine nackten Arme und Beine. Sie hatte eine Lederjacke über die Schultern gelegt. Während wir gingen redeten wir miteinander. Vielleicht zitterte ich ein bisschen, denn plötzlich fragte sie mich: Oh, are you cold? You can have my jacket if you want to., und sie deutete an, sich die Jacke auszuziehen und mir zu geben. No no, it's fine, sagte ich schnell. Ich wollte nicht, dass ihr kalt würde. Doch ich konnte zugleich auch nicht fassen, dass sie mir gerade ihre Jacke angeboten hatte, damit mir nicht kalt würde. Das machten die doch normalerweise nur in Liebesfilmen. Waren wir hier etwa in einem Liebesfilm und ich merkte es gar nicht? Zu viel wollte ich mir nicht erhoffen, also schob ich den Gedanken kopfschüttelnd zur Seite. Really? Yes, no problem. Ich lächelte. Die ganze Zeit über lächelte ich.
Das Gespräch nahm eine Wendung und plötzlich kam es dazu, dass ich sagte: Sometimes I feel lonely in my class because I feel like I have nobody I can really talk to. Das entsprach der Wahrheit. You can always talk to me if you need it, sagte sie und sah mich an. I'm always there, you can ask Alida for my phone number, you can always text me. Ich hatte das Gefühl, dass sie das ernst meinte. Thank you. Ich war gerührt. Thank you so much.

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