1. Tanz mit dem Tod

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Für gewöhnlich mied Klapperschlangen Jake die Öffentlichkeit. Auch heute. Nur war er im Verborgenen manchmal dort anwesend. Dies geschah meist Nachts, in der Dunkelheit. Das sollte nicht heißen, dass Jake, der gefährlichste Revolverheld des Westens, Angst hatte. Aber selbst ein legendärer Killer wollte die Ruhe genießen. Wobei man bei einem Jahrmarkt nicht von Ruhe reden konnte. Nur manchmal fragte sich Jake, wie es wohl war, sorglos durch die Menge zu schlendern, ohne, dass sich die Köpfe mit Horror zu ihm umdrehten. Das war der Preis für sein Killer-Dasein, aber es konnte ihm auch nur recht sein. Klapperschlangen wurden so gut wie immer von der Bevölkerung gemieden. Egal ob von Menschen oder Tieren.
Jake schnaubte bei diesem Gedankengang. Er wurde langsam alt, dabei war er noch in der Blüte seines Lebens, wie er es bezeichnete. Grummelnd hob er mit seiner Kanonen-Schwanzspitze eine Flasche, die er sich heimlich von einer Getränkebude „geliehen" hatte und trank sie in einem Zug aus. Ausnahmsweise war es kein Kaktussaft und auch kein Whiskey. Es war reines Wasser. Für harte Kerle wäre was Alkoholisches wohl angebrachter, aber in so einer dichtbevölkerten Siedlung blieb er lieber komplett nüchtern. Hier patrouillierten viele Sicherheitskräfte, sogenannte Hilfssheriffs, die sich um die betrunkenen Zuschauer kümmerten. Da wollte er nicht Gefahr laufen, unvorbereitet auf einen von ihnen zu treffen.
Er ließ seinen Blick über das noch hell erleuchtete Gebiet schweifen. Er befand sich in der Nähe einer Westernstadt namens „Dusty Stone". In den Straßen der Holzhäuser standen verschiedene Buden. Egal ob für Essen und Trinken, oder Spielstände. Jake hatte im Schatten der Häuser hier und da einen Blick reingeworfen und sich über das sorglose, manchmal auch naive Leben, der Stadttiere amüsiert. Manche lebten so in den Tag hinein, dass es ihm schon beim Anblick langweilig wurde. Damen diskutierten über den neusten Klatsch, Herren rauften sich um das Toilettenhäuschen, und Kinder spielten mit Murmeln oder Puppen und allerlei Krimskrams.
Jake gähnte bei dieser Vorstellung. So ein banales Leben wäre nichts für ihn. Seines war zwar nicht ohne Lebensgefahr, vielleicht wäre das Leben eines Westernhelden ansehnlicher gewesen, doch sein Aussehen und Ruf hatte das nie zugelassen. Schon gar nicht, weil er den Tod selber im Mund mit sich mit trug. Niemand wollte etwas mit einer Klapperschlange zu tun haben. Und weil das eine bittere Tatsache war, die seinen Lebenswandel geprägt hatte, wurde er nun mal zu dem was er war: ein Killer.
Jake zog sich tiefer in die dunkle Gasse zurück, als ein angetrunkener Besucher zwischen den hinteren Häusern entlang taumelte. Irgendwann kippte der Typ um und landete neben einer Mülltonne.
Jake rümpfte die Nase. „Flasche", murmelte er. Manche Leute hatten einfach nicht die nötige Qualität im Gehirn für ein halbwegs gescheites Dasein.
Er verließ die Gasse und kroch beinahe lautlos an dem betrunkenen Schlafenden vorbei, der den vorbeikriechenden ‚Tod' gar nicht bemerkte. Locker könnte Jake ihn herunterschlingen, aber dazu hatte er keine Lust. Wenn dann tötete er meist gegen Bezahlung, damit es sich lohnte. Hiermit würde er nur unnötiges Aufsehen erregen, aber heute ‚arbeitete' er nicht.
Im Schatten der Häuser und der Nacht schlängelte er Richtung Stadtgrenze. Die Wüste war nur spärlich vom Mond beleuchtet, aber es war wolkenlos und ein lauwarmer Wind strich über die Landschaft. Hier befanden sich mehrere Gatter für Pekari- und Roadrunnerherden. Doch heute waren die meisten in den entlegensten Teil verlegt worden, weil in diesem Bereich nicht weit entfernt ein Wanderzirkus gastierte. Es war kein großer. Es war lediglich eine Ansammlung mehrerer kleine Zelte und Buden, die hier und da einen Artisten oder eine Attraktion zeigte. Jake schenkte diesem bunten Treiben und der fröhlich klingenden Musik wenig Beachtung. Manches fand er peinlich. Sich einfach vor eine Menge stellten und den Clown zu spielen, war seiner Meinung nach nur herabwürdigend. Dennoch wollte Jake, bevor er sich wieder Richtung tiefen Westen aufmachte, einen Blick reinwerfen, um zu sehen, womit sich die Wüstentiere ihre sinnlose Zeit totschlugen.
Die Vorstellungen wurden mehrmals am Tag gegeben. Es war zwar schon spät am Abend, doch die Abendvorstellungen schien die meisten Tiere anzulocken. Jake musste extrem aufpassen nicht von einem Passanten entdeckt zu werden und hielt sich im gebührendem Abstand hinter den Zelten und Wohnwagen auf. Zwischen den Buden erspähte er hier und da jonglierende Artisten und sogar einen Feuerspucker.
„Meine Damen und Herren", rief plötzlich jemand durch ein Megaphon. „Treten sie näher und besuchen Sie unsere letzten Vorstellungen. Lernen Sie kennen, den bärenstarken Alonzo, der sogar ein Auto stemmen könnte. Die mutige Seiltänzerin Fiorela, die sogar einen Salto ohne Netz schlagen kann..."
Jake wandte sich uninteressiert ab. Lächerlicher ging es wohl nicht mehr.
„... und Ramirez' Tanz mit dem Tod", fuhr der Ansager fort.
Jake verzog spöttisch den Mund. Klang nach einer billigen Trickkiste. Wenn einer schon einen ‚Tanz' mit dem Tod machte, dann mit ihm, wobei er für gewöhnlich den ‚Takt' angab.
„Eine gefährliche Aufführung mit echten giftigen Schlangen!"
Jake hielt inne, als er diese laute Ansage hörte. War das nur eine bildlich gesprochene Redensart oder meinte der Schreier das ernst? Als nächstes fragte er sich, welche dumme Schlange sich wohl zu so einer lächerlichen Aufführung überreden lassen würde.
Der Ansager hatte seine Durchsage beendet und begab sich in eines der kleinen Zelte. Jake überlegte. Je länger er darüber nachdachte, umso neugieriger wurde er. Schließlich zuckte er mit seinen Oberkörpermuskeln. Wieso sollte er nicht mal einen Blick reinwerfen? Zeit hatte er ja genug. Also verlegte er seine vorgehabte Abreise und schlich an den Zelten entlang. Da er die Veranstaltungsschilder an den Zelteingängen nicht lesen konnte, folgte er einfach dem Geruch. Für seine gespaltene Zunge war das kein Problem, und alsbald fing er den Duft von anderen Reptilien auf. Sein Blick wanderte auf eines der kleinen Zelte. Er glitt drauf zu und schob ganz vorsichtig die Zeltplane von unten etwas an. Er hatte Glück. Sein Platz befand sich direkt hinter einer mehrstöckigen Sitzbankreihe, unter denen er zwischen den Beinen der untersten Zuschauer spähen konnte.
Im Inneren des Zeltes befand sich eine kleine Arena. Rund herum standen oder saßen Zuschauer und unterhielten sich oder kauten Popcorn.
Es dauerte nicht lange und es erklang afrikanische Trommel-Musik aus einem Kassettenrekorder. Die Gespräche verstummten. Dann stiegen Rauchschwaden im Zeltraum auf. Kurz darauf tauchte eine dunkle Gestalt im dichten Nebel auf.
Jake kniff die Augen zusammen. Die Silhouette formte sich zu einer dickbeleibten Wüstenkatze in Ranger-Kleidung und mit falschen Tigerfell überzogenen Hut.
Jake stellten sich die Schuppen auf. Diese Wüstenkatze, bei der es sich wahrscheinlich um diesen Ramirez handelte, besaß eine hochnäsige Art, der er zu gerne mal Angst einjagte. Ramirez hob erhaben die Arme. Dann wie aus dem Nichts tauchten auf einmal vier kleine Klapperschlangen auf. Dicht gefolgt von aufblitzenden Scheinwerfern, was einem eine Gänsehaut hervorrief.
Jake hielt kurz den Atem an. Was man mit simplen Lichteffekten und Musik für Gefühle erzeugen konnte, beeindruckte ihn für einen Moment.
Die Gifttiere rollten ihre Körper zusammen und postierten sich zu zweit jeweils an der Seite von Ramirez. Dieser hatte jetzt eine Peitsche gezogen und knallte damit ein paar Mal gekonnt in der Luft. Die kleinen Klapperschlangen zogen die Köpfe ein. Aber an der Größe von Ramirez kamen sie bei weitem nicht heran. Von der Länge schätzte Jake sie in der Größe von Rango oder ein wenig länger. Sie mussten noch extrem jung sein.
Wieder schwang Ramirez die Peitsche. Die Klapperschlangen verharrten still an Ort und Stelle, wobei sie mit gebogenen Hälsen von ihrem Unterweiser Abstand hielten.
Die ersten Minuten fand nichts Besonderes statt. Ramirez veranlasste die kleinen Schlangen über Stangen und durch Reifen zu springen. Jake meinte schon sich langweilen zu müssen als der Schlangenbändiger plötzlich die Peitsche schwang und einer der Schlangen einen harten Schlag versetzte. Diese reagierte und biss ihm in den Arm.
Die Menge schrie kurz auf. Doch Ramirez blieb gelassen. Er krempelte sogar die Ärmel hoch und riss die Arme in die Luft.
Jake blieb der Mund offen. Der Biss schien diesem Typen nichts ausgemacht zu haben, dabei besaßen Klapperschlangen schon von klein auf tödliches Gift in den Zähnen. Doch Ramirez packte jetzt sogar eine andere Klapperschlange am Nacken, drückte ihren Kopf am Rand eines Glases, welches er wie aus der Luft gezaubert hatte und presste ihr das Gift heraus. Anschließend trank er das Gift aus.
Jake beobachtete alles mit fassungsloser Miene. Wieder hielt Ramirez die Fäuste in die Luft. Er wankte weder noch kippte er um.

Noch etwas nachdenklich verließ Jake das Zelt. Wie konnte es sein, dass ein Wesen einem Giftschlangenbiss trotzte? Entweder trug dieser Giftschlangenbändiger bissfeste Klamotten, oder war er doch gegen das Gift ... Jake schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Dafür waren die Zähne von Klapperschlangen zu lang. Es konnte nicht am Fell wie bei Mungos liegen. Eine Immunität konnte er eigentlich auch ausschließen. Außer Kettennattern waren ihm keine giftresistenten Tiere bekannt. Es sei denn ...
Jake legte die Stirn in Falten. Da konnte nur ein Betrug dahinter stecken. Anders konnte er sich das nicht erklären. Aber er hatte doch gesehen, wie er das Gift aus ihren Drüsen gepresst hatte ... Es musste ein Trick sein. Irgendein billiger Zaubertrick, den dieser Ramirez geschickt eingefädelt hatte.
Das Einzige, was Jake noch besonders ärgerte, war, dass diese Giftbiester dieses schmutzige Spiel auch noch mitmachten. Das war gegen jede Schlangenwürde. Er hasste es, wenn man Schlangen ins Lächerliche zog. Sein Blick verdüsterte sich, als er wieder an Rango denken musste, der ihn zwar fair besiegt, aber dennoch etwas blöd vor den Stadtleuten hat aussehen lassen, als er ihn mit dieser Wasser-Fontaine in den Himmel katapultiert hatte.
Jake stieß ein angewidertes Schnauben aus. Egal wie, er wollte dieser Sache unbedingt auf den Grund gehen. Er grinste. Vielleicht wäre dieser Ramirez sogar bereit eine Vorstellung mit ihm zu geben, aber diesmal würde er diesem Wichtigtuer schon zeigen, wer hier wirklich tödlich giftig war.

Der Platz leerte sich. Alle Anwohner der Stadt hatten den Zirkusplatz verlassen. Die Artisten hatten alle Stände leergeräumt und sich in ihre mobilen Behausungen zurückgezogen.
Jake hatte sich hinter einem kleinen Hügel zurückgezogen und ganz flach gemacht. In der Dunkelheit konnte ihn keiner sehen. Aufmerksam beobachtete er die Umgebung, wobei sein Blick überwiegend auf dem Zelt mit der Schlangen-Nummer gerichtet war.
Es dauerte noch eine Weile bis sich endlich eine Bewegung an der Zeltseite tat. Schatten huschten heraus. Jake verengte die Augen. Jemand leuchtete mit einer sehr kleinen Laterne ins Dunkel. Jake erkannte Ramirez, der noch etwas anderes in den Händen hielt, an denen er ab und zu zog. Unter ihm bewegte sich der Boden. Jake erkannte die kleinen Klapperschlangen um ihn herum, deren Köpfe irgendwie an eine Art Leinen gebunden waren.
Nicht gerade arbeiterfreundlich, dachte Jake. Da es noch Kinder waren, grenzte das schon an Kinderversklavung. Er konnte daraus schlussfolgern, dass die kleinen Klapperschlangen sich nicht freiwillig dem Willen ihres Brötchengebers unterwarfen.
Jake beobachtete weiter wie Ramirez die Kleinen ab und zu mit dem Fuß nach vorne schob und derjenige, der nicht schnell genug war an der Leine mitzerrte.
Wenigstens dauerte dies nicht lange. An einem kleinen Wohnwagen hielt er an und schleifte den giftigen Zug mit sich rein.

Er blieb ziemlich lange im Wohnwagen. Jake wurde ungeduldig. Ob er dort zu Abendessen aß?
Endlich öffnete sich die Wohnwagentür und Ramirez trat heraus – allein.
„Ich wünsche euch eine gute Nacht", rief er noch in den Wagen rein. Dann zog er die Tür zu und schloss sie ab. Dann begab er sich lachend und summend ins Zelt.
Als Jake sich sicher war, dass er nicht mehr zurückkommen würde, kroch er an den kleinen Wohnwagen heran.
Vorsichtig spähte er durch das Fenster. Es war zwar mit einem Tuch verhangen, doch durch einen Spalt konnte er einen Blick ins Innere erhaschen. Drinnen war es dunkel. Im Schein des schwachen Mondes erkannte Jake lange herunterhängende Streifen. Seine Pupillen verengten sich. Die kleinen Klapperschlangen waren mit Stricken um den Kopf und Maul an Haken festgebunden und hingen mit dem Schwanzende nach unten von der Decke runter. Sogar ihre Augen waren verbunden. Auch ihre kleinen Rasseln waren mit jedem anderen mit Seilen verknüpft, sodass sie nicht mal die Möglichkeit hatten ihre Körper unabhängig voneinander zu bewegen. Jake horchte auf, als er ein leises Wimmern aus dem Wagen hörte. Seine Muskeln verspannten sich, sodass er es nicht vermeiden konnte ein kurzes aber hörbares Rasseln mit seiner Kanone zu erzeugen.
„Wer da?!", rief auf einmal eine Stimme aus kurzer Distanz.
Schnell machte Jake kehrt und huschte durch die Dunkelheit davon.

Als Jake meinte weit genug vom Ort seiner Observation zu sein, und er sich sicher war, dass ihm keiner folgte, hielt er an und schaute von einem Hügel auf die Stadt herab, in deren Häusern noch ein paar Lichter brannten. Sein Blick driftete ab zum Wanderzirkus, wo die kleinen Klapperschlangen in ihrer hilflosen Lage gefangen waren.
Jake rollte seinen Körper zusammen und blickte mit finsterer Miene auf die Ebene herab.
Nach einer Weile wandte er sich ab, doch dann hielt er inne. Wieder schaute er zurück. Dann wandte er sich schnaubend wieder ab. Hielt dann aber wieder an.
Mit einem lauten Knurren glitt er zur Seite und suchte sich eine Nische in einem Felsen. Er beschloss vorerst in der Nähe zu bleiben und den kleinen Zirkus im Auge zu behalten. Er wusste zwar noch nicht, was er danach machen sollte, aber irgendetwas hinderte ihn daran einfach die Kleinen ihrem Schicksal zu überlassen. Mit diesem Gedanken döste er ein.

Kaltes GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt