Seine Stimme war ernst und normal und ich konnte weder Spott noch Hochmut heraushören. Es war, als würde eine andere Person vor mir stehen, als der Kalle, dem ich letztes Schuljahr viel zu nahe gekommen war.
Ich traute dem Schein nicht.

,,Vor was wollte er denn fliehen?", fragte ich argwöhnisch. Wenn es vor Kalle war, fand ich mich in der ernsthaftem Überlegung, Theo das Fahhrad samt Helm zurückzugeben.

Kalle seufzte. ,,Das ist eine komplizierte Angelegenheit."
Man sah ihm an, dass er nicht darüber sprechen wollte, aber ich spürte kein Mitleid und bohrte nach.
,,Warum sollte er denn einen Grund haben, zu fliehen? Bedroht ihn etwas?"

Ich spürte, dass ich mich auf gefährliches Terrain begeben hatte und versuchte mein lautstark schlagendes Herz zu beruhigen.
Wir waren hier mitten in der Öffentlichkeit, immer wieder liefen Leute vorbei. Hier würde er mir nichts tun.

,,Am ehesten bedroht ihn er selbst", war Kalles einzige Äußerung dazu, während er den Blick nicht von Theo abwandte.
Dieser stand fast schon eingeschüchtert neben seinem Bruder, seine blauen Augen, fest auf den Boden fixiert.

,,Er selbst? Nicht etwa sein großer Bruder?", platzte es aus mir heraus.

Ich wusste, dass damit die Linie der Diskretion, die bis hierher noch gegolten hatte, überschritten war.
Aber ich musste es wissen, etwas in meinem Inneren wollte Theo sonst nicht alleine mit Kalle weggehen lassen, etwas brannte darauf zu erfahren, wie grausam Kalle mit seinem Bruder umging, so grausam, dass er sogar floh. Etwas in mir wollte die Polizei rufen, Kalle gleich in die nächsten Sozialstunden oder in den Jugendknast schicken, als die Bilder von letztem Schuljahr in mir hochkamen.

,,Lass es gut sein, Elizabeth", erwiederte Kalle. Seine dunklen braunen Augen waren auf meine gerichtet und ich fröstelte.
,,Ich weiß, was ich getan habe und ich weiß, dass du genau das wieder von mir erwartest, aber ich habe Besseres zu tun, als mich mit deinen Vorurteilen zu beschäftigen, auch wenn sie gerechtfertigt sein mögen."

Er machte einen Schritt zurück, da eine Fußgängerin vorbeilaufen wollte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
,,Auch wenn du es mir nicht glaubst, ich möchte etwas ändern. Nicht nur mich selbst, sondern die Umstände um mich, sowie die Ursachen und Folgen meines Verhaltens."

Mit diesen Worten wandte er sich ab. Er hob die Hand als Zeichen für Theo, ihm zu folgen und gemeinsam liefen die beiden davon. Ich sah ihnen nach, bis sie zwischen  den Häusern verschwunden waren.

Dann schüttelte ich den Kopf, wandte mich ebenfalls ab und setzte meinen Helm auf.
Einen Teil des Weges schob ich, ohne es zu bemerken.
Kalles Auftreten, sein Verhalten, das so gegensätzlich zu letztem Jahr schien, seine Worte, aber auch seine unruhigen Hände, sein spürbare Nervosität, seine Augen, die mehr auf den Boden, als auf mich gerichtet gewesen waren, all das hielt mich in Gedanken. Meine anfängliche Furcht, dann die Sorge um seinen Bruder und nun wieder nur Verwirrtheit.

Als ich zu Hause ankam, empfing mich meine Mutter schon besorgt.
,,Wo warst du denn so lange? Ich dachte schon, du würdest bei Jonathan essen und hättest mir nicht Bescheid gesagt."

Ich betrachtete meine Mutter einen Moment lang. Ihre dunklen Haare hatte sie zum Dutt hochgesteckt, ihr Gesicht sah müde aus, wie immer wirkte sie ein bisschen gestresst von der vielen Arbeit, versuchte aber es zu überspielen. Ihr jetzt zu erzählen, dass mein Fahrrad gestohlen worden war und zwar von dem kleinen Bruder des Jungen, der mich und meine halbe Klasse letztes Schuljahr ins Krankenhaus gebracht hatte, war vermutlich keine gute Idee.

Also murmelte ich nur eine Entschuldigung und schlüpfte aus meinen Schuhen, um sie im Flur abzustellen.

Nach dem Mittagessen war ich eigentlich mit den Hausaufgaben beschäftigt, aber ich merkte, wie meine Gedanken immer wieder zu den Ereignissen des Tages abschweiften. Nachdem die Hausaufgaben erledigt waren, gab es nichts mehr, das meine Gedanken aufhalten konnte und ich versank zu meinem Ärgernis ins Grübeln über Dinge, an die ich mich eigentlich nicht erinnern wollte. Was hatte Kalle gemeint mit den Ursachen und Folgen seines Verhaltens? Und wie wollte er sie ändern?

Zum Glück rief in dem Augenblick Jonathan an, um sich mit mir zu unterhalten. Wir redeten eine Weile über Schule, über Noten, über Pamis erste Klassenarbeiten, über belanglose Dinge.
Jonathans Stimme und seine beruhigende, aber auch quirlige und lustige Art waren angenehm.
Von den Ereignissen des Tages konnte ich ihm allerdings nicht erzählen, etwas hinderte mich daran, doch ich konnte nicht erklären, was es war.

Ich war einfach nur froh, eine Ablenkung zu haben, auch wenn mir der Gedanken an meine Begegnung mit Kalle mulmig zumute werden ließ.
Wir telefonierten bis in den Abend, bis wir beide zum Abendessen kommen sollten.
Nach dem Abendessen mit meiner Mutter beschäftigte ich mich mit dem Lernen auf die Arbeit in Mathe, die wir nächste Woche schreiben würden.

Es wurde spät bis ich ins Bett kam, doch als ich das Licht ausknipste und mich zum Einschlafen bereit machte, fingen die Gedanken an den heutigen Tag wieder an wie bunte Glasmurmeln in meinem Kopf herumzukullern. Ein Gedanke war anders als der nächste, aber alle waren nur noch verwirrender, bis ich endlich in einen unruhigen Schlaf fand.


WeihnachtswunderWhere stories live. Discover now