Kapitel 6 - Schicksalsfäden

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Skeptisch musterte Sabrina die junge Frau. »Wann hast du zu studieren begonnen? Mit siebzehn?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin älter, als ich aussehe.«

»Und warum hast du abgebrochen?«

Darauf blieb die Rote ihr eine Antwort schuldig. Sie begann, die Zutaten im Mörser zu einem Brei zu mahlen.

»Na gut, andere Frage: Warum hast du zugestimmt, dass diese Leiche im Käfig bleibt?«, versuchte Sabrina es nach einer Weile des Schweigens, um ihr Gespräch nicht versiegen zu lassen. Sie deutete mit dem Kinn auf den eingewickelten Körper. »Wird sie keine Ghule anlocken?«

Red schüttelte den Kopf, ohne mit dem Mahlen aufzuhören. »Das ist ein totes Tintenwesen. Diese Körper verwesen nicht wie die Leichen von Normalsterblichen. Wenn Tintenwesen sterben, ereilt sie der Tod auf Zeit. Der Körper wird heilen und dann wird der Animus des Tintenwesens in den Körper zurückkehren.«

»Du bist auch so ein Tintenwesen, nicht? Deine Lippen haben die gleiche bläuliche Färbung wie die von Hänsel und Gretel.«

Die Rote nickte seufzend und strich sich das Haar zurück, das ihren Hals verhangen hatte. Auch sie trug alte Brandwunden. Sie waren besser verheilt als Gretels, sodass Sabrina das Motiv erkennen konnte. Das eine war das gleiche, was wohl auch sie verpasst bekommen hatte: Eine zerbrochene Feder, über der ein A schwebte, umgeben von einem Kreis. Das untere zeigte die Lilie der Inker.

Red war also auch schon einmal den Inkern zum Opfer gefallen...

Sie liess das dunkle Haar zurückfallen und deutete auf den Brei in dem Mörser. »Diese Salbe wird der Narbenbildung entgegenwirken, verschwinden wird dein Mal jedoch nicht. Ich habe aber etwas Schlummertulpe dazugemengt. Das wird die Schmerzen lindern.«

Sabrina schluckte und fuhr sich nahe des noch immer pochenden Mals über den Hals. Zu gerne würde sie einen Blick darauf werfen. »Du hast nicht zufällig einen Ersatzspiegel für mich? Meinen hast du ja geschrottet.«

Die Rote schüttelte den Kopf und schabte die Salbe auf ein Holzblättchen. »Halte dich von Spiegeln fern. Nur Häretiker und Unruhestifter umgeben sich mit ihnen. Keine gute Gesellschaft für dich, glaub mir.«

»Was für Unruhe kann man denn mit Spiegeln stiften?«, fragte Sabrina weiter. »Sind Spiegel in Twos magisch oder so? Drück dich doch bitte mal weniger kryptisch aus!«

»Sie sind nicht magisch.« Red rutschte näher an sie heran, um ihr die Salbe auf dem Holzplättchen am Hals aufzutragen. - Was auch immer in dem Zeug drin war, sobald es die Wunde berührte, dämpfte sie den Schmerz und kühlte das Brennen ab. Währenddessen erklärte die Rote: »Die dritte Lehre des Enigmanums besagt, dass es unser aller Pflicht ist, unser Schicksal zu erfüllen. Ohne Rechtfertigung, ohne zu fragen, verwebt die Schicksalsspinne unsere Schicksalsfäden in ihr Netz, um diese Welt und um uns herum. Und wir müssen das akzeptieren, nach den Fäden der Spinne tanzen. Denn tun wir das nicht, werden die Fäden reissen und das Schicksalsnetz, das diese Welt zusammenhält, wird zerfallen. Und mit ihm diese Welt.«

»Klingt eigentlich ähnlich wie da, wo ich herkomme«, meinte Sabrina. »Da glauben viele Menschen an einen allmächtigen Mann im Himmel, der das Weltgeschehen bestimmt. Und wer nicht mitmacht, muss auf ewig unter Qualen in der Hölle schmoren.«

»Ist er auch dein Gott?«, fragte Red, während sie ihren Medizinkram aufräumte.

Sabrina schnaubte. »Nö.« Dazu hatte der Pastor sie nie gekriegt...

Die Rote runzelte die Stirn. »Du klingst abschätzig? Keine Angst vor dieser Hölle?«

»Warum sollte ein guter, allmächtiger Gott so viel Ungerechtigkeit in der Welt tolerieren? Wenn es ihn also wirklich geben würde, wäre er ein riesen Arsch. Warum sollte ich so einen Gott verehren? Und das mit der Hölle ist mir zu viel Aberglaube. Ich glaube nur, was ich auch sehen kann.«

Twos - Ein Märchen von Sommer und Winter  - Neue Fassung (3)Where stories live. Discover now