𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 ║ 1

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Und genau diese Verbindung macht aus mir einen in sich gekehrten Menschen, der für kaum etwas anderes lebt, als dafür, für Jonah dazu sein und mein Studium zu absolvieren.
Es mag überzogen wirken, wie sehr das Schicksal von Jonah gleichzeitig auch meines besiegelt hat, aber so ist es nun einmal.
Jonah war alles für mich. Ist es noch.
Doch zu wissen, dass er in einem Wachkoma liegt und mir nicht antworten kann, zerreißt mich jeden Tag aufs Neue.
Ich schäme mich nach wie vor dafür, aber als er ins Koma versetzt wurde, weigerte ich mich drei Tage lang, ihn zu besuchen.
Die schiere Vorstellung, ihn dort liegen zu sehen, vollkommen auf sich allein gestellt, sein einst agiler Körper, der völlig unbeweglich geworden war, war unerträglich für mich.
Ihn drei Tage später dann genauso vorzufinden, stellte etwas mit mir an.
Es brachte mich nicht vollends um, war aber überaus nah dran.
Ein Teil meiner Seele stieß sich von mir ab, wanderte zu ihm und lebt dort in der gleichen Trance, in der er sich seitdem befindet.

Drei Jahre.
So lange werde ich schon dazu missbraucht, die trauernde Tochter zu mimen.
Ich trete auf Spendengalas auf, eröffne Galerien und verteufle mich ein jedes Mal aufs Neue, damit gestraft worden zu sein.
Dabei bin ich froh, dass mein Vater tot ist.
Ich bin erleichtert. Denn ich weiß nicht, wie ich damit umgegangen wäre, hätte er überlebt.
Wie ich ihm gegenüber getreten wäre und was ich ihm an den Kopf geworfen hätte.
Weil mir meine Gedanken tatsächlich selbst Angst einflößen, denke ich lieber nicht weiter darüber nach.
Stattdessen versuche ich, den Missmut in mir zum Ersterben zu bringen. Immer und immer wieder und vor allem jetzt.

Zumindest für die nächsten Minuten.
Immerhin befinde ich mich noch immer auf der Bühne, sehe zwischen seinen Gemälden und dem Publikum hin und her, indessen ich dafür bete, dass man mich endlich erlöst.
Mein Blick ist müde.
Ich lasse ihn nur oberflächlich über die vielen Menschen wandern, die applaudieren, tuscheln und an ihrem Champagner nippen.
Ich verstehe schon, dass man solche Abende leichter durchsteht, wenn man einen losgelösten Zustand der Vernebelung durch Alkohol hervorrufen kann.
Ein kleiner Schwips würde mich höchstwahrscheinlich ebenfalls aus der starren Haltung befreien, in der ich auf dem Podium stehe.
Es ist nicht so, als hätte ich nicht schon einmal darüber nachgedacht; mir sogar gewünscht, ich könnte über meinen Schatten springen und meine Anspannung wegtrinken.
Doch ich kann es nicht.
Nicht, wenn Alkohol dazu führte, dass ich meine bessere Hälfte verliere.

Die Menschenmenge, die meinen Vater in den Himmel lobt, während ich ihn in die Hölle wünsche, besteht hauptsächlich aus Personen mittleren Alters.
Seine Kunst ist keinesfalls modern, eher auffallend klassisch, wenn nicht sogar veraltet und um ehrlich zu sein, kann ich damit nichts anfangen.
So geht es mir mit Kunst in jedweder Hinsicht.
Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass mein Vater mich ununterbrochen dazu ermutigen wollte, ihm nachzueifern oder daran, dass ich vieles davon nicht verstehe.
Doch Fakt ist, dieser Abend gehört für mich schlicht und ergreifend zu einer Pflicht, die ich als Erbin des großen Martin Walters zu erfüllen habe.
Süßholzgeraspel, das ist es.
Nicht mehr und nicht weniger. Ein liebevolles Wort hier, ein strahlendes Lächeln dort. Ich hasse es.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass der Moderator zurück auf die Bühne eilt.
Er stolpert in seinem überteuerten Frack die Treppe hinauf und überspielt seine – dem Alkohol geschuldete – Ungeschicklichkeit mit einem überdrehten Klatschen in meine Richtung.
Ich will meine Aufmerksamkeit auf ihn richten, aber in genau diesem Moment erblicke ich inmitten des Publikums einen Mann, der hier ebenso wenig hinpasst, wie ich.
Er trägt eine Lederjacke und schaut derart desinteressiert, dass es mich beinahe wütend macht.
Das ist, bedenkt man, dass ich ebenfalls nicht hier sein will, schon etwas paradox.
Wieso ist er hier? Niemand zwingt ihn dazu.
Es ist deutlich ins Auge fallend, dass ihn meine Rede langweilt. Er ist nicht ansatzweise berührt von den mitleiderregenden Worten, die ich gesprochen habe.
Durchschaut er mich?

𝐈𝐍 𝐌𝐄𝐈𝐍𝐄𝐍 𝐕𝐄𝐍𝐄𝐍 [𝙴𝙻𝙸𝙰𝙽𝙰 & 𝙽𝙰𝚃𝙴]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt