(5) Amelia

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Amelia

„Amelie! Hör auf!“, hörte ich plötzlich eine männliche Stimme, die mir so vertraut vorkam. Wincent! Das war die Stimme von Wincent und sie hörte sich laut an. Warum hörte man ihn so laut? Ich war verwirrt. „Ich meine ja nur… Beruhige dich wieder, Wincent. Ist doch alles nur Spaß“, hörte ich sie lachen. Wie erstarrt saß ich  auf der Couch und brachte kein Wort heraus. „Amelie! Lass es bitte“, hörte ich ihn sie anflehen. Schon wieder hörte man ihn laut. Er stand bestimmt direkt neben Amelie, was mich noch mehr verwirrte. Konnte er irgendetwas hören? Wenn ja, wie viel hat er mitbekommen? Stand er schon die ganze Zeit neben ihr? Ich war so verwirrt, dass aus mir kein einziger Ton herauskam.

„Amy? Alles gut?“ Ich nickte nur. Allerdings merkte ich schnell, dass es dumm war. Wie dumm konnte man nur sein? Amelie konnte mich doch nicht sehen. „Bist du noch da?“, hakte sie nach, nachdem keine Antwort von mir kam. „Äh, ja! Ich bin noch da“, gab ich unsicher von mir. „Du Amelie, ich muss auflegen. Ich muss mich um Mara kümmern“, fügte ich noch schnell hinzu, bevor Amelie etwas sagen konnte und legte schnell auf. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Was war das gerade? Es war mir total unangenehm und das mit Mara war obendrein auch noch gelogen. Was habe ich da gerade nur gemacht? Ich wusste selbst nicht, was gerade in mir vor sich ging, geschweige denn, weshalb ich mich gerade so anstelllte.

„Amy!” Ich schreckte auf, als ich meinen Namen hörte. Und plötzlich stand auch meine Schwester vor mir. „Kannst du bitte etwas zum Essen machen?” Und ich dachte schon, es wäre etwas passiert, so wie sie meinen Namen gerufen hatte. „Klar doch”, antwortete ich schnell. Ich stand auf und ging in die Küche, um uns etwas zu kochen. „Und du bist echt nicht sauer?”, fragte Mara plötzlich. Deutlich konnte ich erkennen, dass sie den Tränen sehr nahe war. „Warum sollte ich? Ich weiß doch, dass du mich nur glücklich sehen willst. Ich nehme dir das von vorhin echt nicht böse. Mach dir da bitte keinen Kopf. Es ist alles in Ordnung. Mach sowas aber bitte nicht, wenn andere dabei sind, das wäre mir nämlich unangenehm.” Da lächelte sie mich an und fiel mir in die Arme. „Hab dich unendlich dolle lieb, Amy”, flüsterte sie. „Und ich hab dich noch mehr lieb”, flüsterte ich ihr ins Ohr. „Setz dich bitte hin, dann kann ich für uns kochen”, fügte ich hinzu, jedoch in einem normalen Ton und nicht geflüstert. Mit einem Lächeln im Gesicht setzte sich meine kleine Schwester an den Esstisch und beobachtete mich beim Kochen. „Ich will auch mal so sein wie du. Du kannst so gut kochen und backen. Du bist so hübsch, kannst super Klavier spielen, zeichnen und so. Und du bist die netteste Person, die ich kenne. Aber am wichtigsten, du bist die allerbeste große Schwester.” Mir wurde ganz warm ums Herz, als ich das aus dem Mund meiner Schwester hörte. „Dankeschön. So ganz nebenbei, du hast nur eine große Schwester”, lachte ich. „Und zu dem Rest, das kannst du auch alles lernen, wenn du nur willst. Ich kann dir Klavierspielen beibringen. Nur damit du's weißt, du bist viel hübscher, aber auch total frech”, fügte ich hinzu und lächelte sie an. Ich liebte solche Momente mit meiner Schwester, nur waren diese weniger geworden, seitdem ich studierte. Doch besonders heute brachte mich dieser Moment mit ihr auf andere Gedanken.

Nach dem Essen ging jede von uns in ihr eigenes Zimmer. Mara wollte noch mit unserem großen Bruder sprechen, weshalb ich ihr das Festnetztelefon in die Hand drückte, da ich mit meinem Handy noch etwas machen wollte. Ich musste für die Hochschule, an der ich studierte, noch ein paar Sachen erledigen. Dazu kam ich allerdings nicht, denn ich hatte eine ungelesene Nachricht von Amelie, die ich vorher lesen wollte.

Sorry wegen vorhin. Wenn du willst, können wir noch einmal telefonieren. Möchte gerne noch etwas mit dir besprechen.

Aber bitte ohne Wincent, hoffte ich.

Klar, gerne.

Ich schickte die Nachricht ab und ein paar Sekunden später rief Amelie auch schon an. Das ging mir etwas zu schnell, doch ich nahm den Anruf sofort an. „Bist du alleine?”, fragte ich schnell. „Ja, bin ich. Ich hab mein Handy auf laut. Bin nämlich gerade am zeichnen”, erklärte sie mir. „Wincent ist nicht da?”, fragte ich trotzdem zur Sicherheit, doch merkte schnell, dass auch das ziemlich dumm war. „Nein, ich bin alleine”, versicherte sie mir. Erleichtert atmete ich auf. Es wäre ziemlich unangenehm, wenn Wincent mithören würde. Genauso wie vorhin, wobei ich mir da nicht sicher bin, was und ob er etwas mitbekommen hatte. „Du hast vorhin so schnell aufgelegt. Ist alles in Ordnung bei dir?”
„Ja, alles in Ordnung. Ist heute nur alles irgendwie viel für mich. Aber Ablenkung kann ich echt gut gebrauchen”, antwortete ich. „Amy, ich hätte da mal eine Bitte an dich. Ich brauche Unterstützung, um meinen Chef bei einer Sache zu überreden. Es geht um Kinderkleidung und ich glaube, du wärst die richtige Person, die ihn positiv von meiner Idee überzeugen könnte. Er ist von meiner Idee wirklich nicht begeistert.” Kinderkleidung? Ich wusste nicht so recht, was sie genau wollte. Und warum sollte ausgerechnet ich die Person sein, die ihren Chef überreden könnte? Ich wusste, was Amelie beruflich machte, doch gleichzeitig auch nicht. Wir waren gute Freunde, keine Frage, aber was genau sie beruflich machte, das interessierte mich dann doch nicht wirklich. Management, das wusste ich. Ihren Chef kannte ich allerdings nicht. Wir sprachen auch nie sonderlich über ihren Job. „Wenn du nächste Woche mal Zeit hättest, wäre das echt gut”, fügte sie hinzu. „Dann könnten wir doch bestimmt auch das Essen nachholen”, schlug ich vor. Amelie fand die Idee ganz gut und wollte Wincent fragen, ob er mitkommen würde. „Aber ich weiß nicht. Ich hab echt kein gutes Gefühl dabei, deinen Chef positiv von deiner Idee zu überzeugen. Ich weiß nicht mal, was genau du dir vorgestellt hast.” Ich hatte nicht wirklich Lust, mit ihm zu reden und ich war nicht sonderlich gut darin, andere Menschen von etwas zu überzeugen. „Da können wir uns nächste Woche treffen. Wie wäre es mit Freitag? Nachmittags oder abends? Wir gehen erst meine Idee, die du lieben wirst, durch. Anschließend können wir mit meinem Chef reden.” Ich war nicht sonderlich begeistert, doch stimmte zu. „Wir suchen einfach nach ein paar Argumenten! Amy, du wirst schon sehen, das wird gut.” Gut? Ich tat das nur, weil Amelie eine gute Freundin von mir ist.

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