Kapitel 1 - Es war einmal...

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»Hey!«, rief der Rotschopf. »Töte nicht den Boten!« Er stellte das Tablett, das er in das Zimmer mitgebracht hatte, auf den Schreibtisch, öffnete die Vorhänge und kippte das Fenster. »An so einem schönen Tag machst du die Schotten dicht?«

Vom grässlich hellen Sonnenlicht geblendet, schirmte sie die Augen ab. »Mensch, Mile. Lass das doch«, grummelte sie matt.

Er grinste nur und ging aus dem Zimmer, um mit dem Wurfgeschoss zurückzukommen, das ihn eben noch verfehlt hatte. »›Morgen bin ich ein Löwe - Wie ich die Schizophrenie besiegte‹ von ›Arnhild Lauveng‹.« Er schob die Unterlippe vor. »Was hat das Buch dir getan?«

»Es war frustrierend«, schnaubte sie anklagend und zog sich die Bettdecke bis über die Nase, sodass nur noch die hellen, blauen Augen und ihre ungekämmte, blonde Mähne zu sehen waren. Sie starrte an die Decke. »Ich dachte, es geht darum, wie man die scheiss Schizophrenie loswird, aber schon nach ein paar Sätzen fängt die Olle von Fehldiagnosen zu schreiben an.«

Mile zuckte mit den Schultern. »Und?«

»Na, wenn das der Trick an dem Ganzen ist, muss ich das blöde Buch nicht lesen.«

Stirnrunzelnd blätterte Mile zu den Seiten der Einleitung und überflog diese. »›Oder des symptomfreien Schizophrenen, der die Krankheit mit Medikamenten in Schach hält, und nicht zuletzt...‹ Blablabla ... Hier! ›Keine dieser Alternativen ist irgendwie schlecht, aber sie treffen auf mich nicht zu. Ich war schizophren.‹« Er klappte das Buch zu. »Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.« Er warf ihr den Wälzer vor die Füsse aufs federnde Bett und ging zurück zum Schreibtisch. »Kuchen! Hab ich aus der Küche geklaut, bevor uns Boris zuvorkommt.« Er hob zwei Teller vom Tablett, stellte ihr einen auf den Bauch und setzte sich neben sie. Während er sich eine volle Gabel in den Mund stopfte, schmatzte er: »Ich foll fich frafen, ob fu feine Mefis fon gefackt hafft.«

Missmutig stocherte sie in ihrem Teller herum. »Die Medis eingepackt? Ja, natürlich!« Vor dem Gedanken, wie es ohne ihre Antipsychotika war, graute ihr. Tausende Stimmen in ihrem Kopf, die alle auf einmal durcheinanderquasselten. Als würde sie in einer Halle mit tausenden Radios sitzen, alle bis zum Anschlag aufgedreht und jedes auf einen anderen Sender eingestellt. Das war ihr das letzte Mal vor einem halben Jahr passiert, als sie auf Klassenfahrt gewesen waren und das KZ Sachsenhausen besichtigt hatten. Sie hatte vergessen, ihre Medikamente einzupacken. Der Schub war schlimm gewesen. Sie war zuvor schon als Sonderling abgestempelt worden, aber dieser Vorfall hatte ihren Ruf besiegelt.

Aber das war ihr eigentlich ohnehin egal. Mile war der einzige Mensch, bei dem sie sich irgendwie wohl und verstanden fühlte. Nicht einmal zu den anderen Pflegekindern hatte sie einen Draht.

»Sag mal, hast du ein Veilchen?«, fragte Sabrina, als ihr die Verletzung im Gesicht ihres eineinhalb Jahre älteren Bruders musterte.

»Scheisse, sieht man das echt so gut? Dachte, es würde als Schramme durchgehen«, entgegnete Mile, während er seinen Kuchenteller ableckte.

Sabrina gluckste und winkte ihn heran, um sein Gesicht mit dem Handy zu fotografieren. Das Foto zeigte einen klaren blauen Ring um das leicht zugeschwollenes Auge. Mile bliess nur die Wangen auf und zuckte mit den Schultern, als er sein Veilchen betrachtete.

»Was ist passiert?«

Der Rotschopf winkte ab. »Dieser Typ vom Skatepark wollte wieder Stress.«

Sabrina nickte. Wie das halt so war mit Mile. Eigentlich war er der freundlichste Kerl auf Erden, nur hatte er ein latentes Aggressionsproblem, aus dem er einfach nicht hinauswachsen konnte. Es hatte zwar seit Jahren keinen schlimmen Vorfall mehr gegeben. Hier und da kleine Prügeleien. Dennoch genug, um ihm regelmässig gehörig Ärger von der Schule und dem Pastor einzubringen. Immerhin hatte man ihn noch nicht von der Schule geschmissen, das Jugendamt musste wohl ein gutes Wort für ihn eingelegt haben. Seiner Schwester gab er diese aggressive Seite von sich jedoch nie zu spüren.

Twos - Ein Märchen von Sommer und Winter  - Neue Fassung (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt