Freitagabend Gerüche

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Das Band läuft und läuft auf Hüfthöhe. Es schleppt kleine, gefüllte Teller mit bunt markierten Deckeln. Unter den Deckeln lagern weiße, klebrige Klumpen, mit getrockneten Algenbändern fixiert und rosa Fleisch veredelt. Ich kann nicht aufhören mir wie ausgehungert diese Dinger in den Mund zu schieben. Ich lasse es mir auf der Zunge zergehen und schmecke den Hauch von Yasmin. Deshalb komme ich immer hierhin - kein billiges, geschmackloses Zeug. Langsam füllt sich mein Magen. Ich schiebe Sushi in mich hinein wie Mienenwagons, die ihre Ladung direkt zur Maschinenfeuerung befördern. Ich bin einfach alle. Heute konnte ich immerhin um acht Uhr im Sinofa Büro Schluss machen. Im Kopf zieht es. Ich veratme die Läufe der letzten Woche. Ich habe doch einiges geschafft. Ich fühle eine schüchterne Befriedigung aufkommen, aber - Hach! Schitt! Für Schmidt habe ich den Bericht noch nicht zusammengefasst, Mike wollte ich heute noch die Liste der notwendigen Sinofa Templates gesendet haben - und Ulrike müsste ich eigentlich bis Montag noch antworten. Vielleicht kann ich das ja morgen früh noch schnell von zu Hause aus machen. Ich mahle die klebrige Masse noch eindringlicher und frage nach, wo mein Wein bleibt. Soll ich auch Wasser bestellen? Ach nee, das bläht meinen Bauch so auf.

Der Wein hat eine feine Würze mit leichter Vanille-Note. Große Schlucke kühlen mir die Kehle. Nach weiteren Schlucken wärmt sich meine Brust und der Kopf wird endlich leichter. Das klebrig Weiße mengt sich in meinem Mund nun noch inniger um das rohe Fleisch. Ein Glas ist schnell geleert und das zweite ungeduldig erwartet. Ich giere nach noch mehr Leichtigkeit. Mit der Leichtigkeit werden die Sinne wach. Ich möchte riechen und fühlen. Schönes sehen. Geflüster hören. Zartes Geflüster! Berührungen fühlen! Gerüche nach Gemischen aus Parfums, Mahlzeiten des Tages und Büroschweiß. After-Work halt. Scheiß Pandemiebeschränkungen. Wo kann ich hin?

Erstmal zahlen und dann raus aus der stickigen Bude hier. Ich atme tief ein. Der Sauerstoff der kühlen Abendluft tut gut. Mein Magen ist gefüllt, der Kopf beschwingt, die Brust gewärmt - schwerelos schwebe ich durch die Straßen, einsam inmitten vieler Passanten. Die Sinne sind gereizt - ich finde keinen Halt. Wo kann ich hin? Zu Hause wartet Netflix. Uff! Das wäre wieder eine lange und leere Nacht. Ich brauche was Substantielleres für meine Sinne.

Ob ich schon wieder bereit bin für Affairen? Fünf Jahre lang schwebte ich in den Blümchen der Liebe. Sich wohlig anfühlende, auf Harmonie bedachte Liebe. Meine Brust wird wieder schwerer, die Leichtigkeit droht verloren zu gehen. Die Sicherheit der Blümchenliebe war angenehm. Aber überall waren Grenzen. Es war klar abgesteckt, wer ich bin. Eine Collage an etablierten Verhaltensmustern wurde akzeptiert. Aber neue Muster waren bedrohlich. War ich mit neu aufkommenden Mustern noch berechenbar? Unberechenbar sein stellte einen Angriff dar. Angriff auf die Unantastbarkeit unserer Beziehung. Darf ich meine Gedanken über Grenzen und bisher Möglichem frei fließen lassen? Darf ich gar meine Komfortzone verlassen, wenn ich einmal die Blümchenzone betreten habe? Jetzt fühle ich mich befreit. Keine Beengung mehr! Aber auch kein Riechen und Schmecken mehr.

Ob ich mal die Lampen-Anmach Challenge von Suzi Ah ausprobieren soll? Seit ein Witzbold einmal aufgenommen hatte, wie er bei der Challenge vorgegangen war und es auf Youtube stellte, ist die Challenge viral gegangen. Dabei hatte ich den Eindruck, dass er sich über diese Challenge nur lustig machen wollte. Ist ja auch grotesk: mit einer kleinen, schwarzen LED-Taschenlampe signalisiert man jemanden in der U-Bahn, dass man an einem Kennenlernen interessiert ist. Ursprünglich hatte Suzi Ah mit diesem Spiel eine Persiflage auf Tinder machen wollen. Suzi - sicher bereits in den 50er - sah im Foto-Wischen & Foto-Klicken bei Tinder kein anderes Gebaren als sich im Zug zu scannen und per Lampen Signale zu geben. Das war für Suzi Ah der Unterschied zwischen digitalem und analogem Partnertargeting. Ich bin sehr erstaunt, wie viele Einträge es auf ihre Persiflage und erst recht auf das Youtube-Video hin bisher schon gab. Der Lockdown hat den Menschen sicher ein Nachholbedürfnis an Sichtbarsein in der Realwelt gebracht. Wohl ein Überdruss an Online-Welten. Jedenfalls scheint diese Vielzahl eine so kritische Masse an Teilnehmern gebracht zu haben, dass auch ich heute Abend jemanden mit Lampe aufspüren könnte.

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