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Kapitel 2

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Vielleicht hätte ich gestern doch ein wenig früher ins Bett gehen sollen.

Ich war wenig Schlaf zwar durch mein Studium gewohnt, aber heute hingen meine Augenlider schon gut auf Halbmast. In der Früh hatte ich unter der Dusche fast noch im Stehen geschlafen, den Umgang mit meinem Rasierer hatte ich aus Sicherheitsgründen unterlassen, und nur durch Zufall hatte ich im letzten Moment einen Blick in den Spiegel geworfen, der mich nicht sehr diskret auf meine braunen Locken aufmerksam gemacht hatte, die in alle Richtungen abstanden.

Es war unfassbar, wie sehr mir Jules und ihr Tagebuch im Kopf herumspukten. Ich hatte nicht nur gestern Abend ständig meine Gedanken dort gehabt, sondern hatte sogar heute Nacht davon geträumt.

Wie ich in Jules' Tagebuch las.

Und seitdem ich davon geträumt hatte, war mir deutlich bewusst, dass ich eigentlich schon seit dem Moment, als ich realisiert hatte, was es war, mit dem Gedanken spielte, es zu lesen.

Jules' Gedanken zu lesen.

Das konnte ich doch nicht tun, oder?

Tagebücher waren nicht dazu da, von fremden Personen gelesen werden.

Tagebücher sollten Privatsphäre garantieren und auf ewig alle geheimsten Geheimnisse bewahren.

Vielleicht konnte man ihr jedoch auch damit helfen, wenn man wusste, was für Probleme sie hatte.

Hatten ihre Eltern es vielleicht sogar schon gelesen? Wussten sie bereits, weshalb Jules das getan hatte? Oder wusste bisher wirklich noch niemand von ihren geheimsten Gedanken?

Gott, ich musste dieses Mädchen echt aus meinem Hirn bekommen. Es ging mich einfach nichts an. Ich war dafür zuständig, dabei zu helfen, dass sie körperlich wieder gesund wurde, und danach würde sich ein Psychologe um sie kümmern. Es ging einfach nicht, dass ich einen ganzen Morgen lang nicht bei der Sache war, weil meine Gedanken um dieses Mädchen kreisten.

»Lorenzo, mein Lieber«, hörte ich da Pauls Stimme, aber sie klang nicht so lieb, wie seine Worte vermuten ließen.

Jetzt durfte ich mir also die Standpauke wegen gestern anhören.

Innerlich wappnete ich mich dafür, was jetzt gleich kommen würde. Gestern hatte ich die Situation noch lustig gefunden, heute dagegen fehlten mir die Kräfte, um meinen eigenen Scherz amüsant zu finden.

»Danke für den Hinweis, dass deine Schwester schon vergeben ist, oder hast du ihren Mann auch erst gestern kennengelernt?«, meinte er mit spöttisch hochgezogener Augenbraue. So ganz ernst meinte er es natürlich nicht, immerhin hatte er sich nicht auf den ersten Blick unsterblich in Cara verliebt. Er war nur genervt davon, dass er einen Abend verschwendet hatte. Obwohl ich fand, dass ein Abend in Gesellschaft meiner Familie nie verschwendet war.

»Ach, komm schon, als wenn du dir den Spaß mit mir nicht erlaubt hättest«, gab ich zurück und rang mir ein müdes Lächeln ab. Mit meinem Kommentar brachte ich ihn ebenfalls zum Lachen, denn er wusste genau, dass ich recht hatte. Und wie gesagt, so schlimm war der Abend nun auch wieder nicht für ihn gewesen. Über das leckere Essen meiner Mama hatte er sich jedenfalls definitiv nicht beschwert.

»Na gut, ich lass dir das jetzt einmal durchgehen«, meinte er dann großzügig. »Dafür darfst du dich heute allein um eine meiner Patientinnen kümmern. Myrna oder Jules?« Er stellte mich unerwartet vor die Wahl.

»Wie? Ich soll das allein machen?« Durfte ich das überhaupt?

»Natürlich. Ich habe dir gestern dabei zugesehen. Du machst die Arbeit ordentlich, und warum sollten wir dann Zeit verschwenden, wenn beide gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit benötigen könnten? Also: Myrna oder Jules?«, fragte er wieder und ich wusste genau, welchen Namen ich sagen würde, ohne dass ich groß darüber nachzudenken brauchte.

Das Leuchten deiner Worte (Wenn Worte Leben schenken)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt