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Kapitel 1

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Lorenzo

Jeder erlebt irgendwann in seinem Leben etwas, was man nie wieder vergisst. Etwas, was einen so großen Eindruck hinterlässt, dass man nachher die Welt mit anderen Augen betrachtet. Die Prioritäten frisch anordnet. Neue Dinge als wichtig erachtet. Etwas, was so heftig ist, dass man plötzlich ein anderer Mensch wird. Vielleicht nicht für Außenstehende sichtbar, nur man selbst spürt es.

Irgendwie hatte ich immer erwartet, dass dieses bedeutungsvolle Erlebnis erst später in meinem Leben eintreffen würde. Wenn ich schon Enkelkinder und eine steile Karriere als Arzt hinter mir hatte und in einem riesigen Haus mit drei Autos in der Garage wohnen würde.

Dass ich dann, nach all den Jahren, verstehen würde, dass mein Streben nach Reichtum und Erfolg sinnlos gewesen war. Dass andere Dinge im Leben wichtiger waren, so wie die Familie, die Gesundheit und das eigene Glück.

Doch dieser alles entscheidende Moment kam, als ich gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt war. Jahrzehnte früher als erwartet. Zu früh, zu überraschend und doch zur richtigen Zeit.

Der Moment kam, als ich Jules Hyatt traf.

Wunderschön und engelsgleich lag sie in dem weißen Bett in dem noch weißeren Krankenhauszimmer der neurologischen Intensivstation. Ihre braunen Haare auf dem Kissen ausgebreitet, ihre makellosen Gesichtszüge entspannt und gelassen. Sie sah so friedvoll aus, wären da nicht die ganzen Schläuche und Maschinen gewesen, an denen sie hing. Der Verband um ihren Kopf. Der dunkle Bluterguss an der Seite ihres Gesichts.

Ihre Schönheit raubte mir im ersten Moment den Atem. Ihre Geschichte dagegen zerstörte etwas in mir.

»Jules Hyatt, siebzehn, wurde heute Nacht nach einem missglückten Suizidversuch eingeliefert und nach erfolgter Trepanation ins künstliche Koma versetzt«, erklärte Dr. Ronson neben mir mit gleichgültiger Stimme, während ich mit zwei weiteren Mitstudenten auf das Mädchen vor uns starrte.

Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Sah sie an, verstand nicht, dass dieses Leben vielleicht nur durch Glück und Zufall noch existierte.

»Wie ...?«, fragte Mona neben mir leise. Mein Blick blieb an der Hirndrucksonde hängen, die von ihrem Kopf wegführte.

»Sie ist von der Kings Bridge in den Fluss gesprungen. Sie war leicht unterkühlt, hatte eine Kopfverletzung und war nicht bei Bewusstsein, als sie aus dem Wasser gezogen wurde. Sie hat ein Schädelhirntrauma mit einer Gehirnschwellung als Folge erlitten«, antwortete Dr. Ronson in seiner gewohnt zackigen Art. »Wie ist normalerweise der weitere Verlauf?«, fragte er dann an mich gewandt.

Ich verdrängte die Bilder von diesem Mädchen, das allein im kalten, dunklen Wasser darum kämpfte, endlich ihren Frieden zu bekommen. Ich schluckte.

»Das Koma soll so lange wie nötig, aber so kurz wie möglich gehalten werden. Abgesehen von den Vitalwerten, soll auch der Hirndruck überwacht werden, und erst wenn die Schwellung deutlich zurückgegangen ist, kann das Koma beendet und die Öffnung des Schädels wieder geschlossen werden«, sagte ich leise, als könnte ich sie wecken, falls ich zu laut sprach.

Dr. Ronson nickte knapp. »Der Rest steht in der Akte.«

Seth, der neben Mona stand, fuhr sich nervös durch die Haare. Das war das erste Mal für uns alle drei, dass wir persönlich mit einer Selbstmordkandidatin Bekanntschaft machten.

Wie ging man mit so etwas um?

Dr. Ronson sah sich einige Werte in der digitalen Patientenakte an, als wären es gleichgültige Zahlen, und wandte sich daraufhin zum Gehen. Mona und Seth folgten relativ schnell, verließen fast schon fluchtartig den Raum.

Das Leuchten deiner Worte (Wenn Worte Leben schenken)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt