18. Dezember 18.57 Uhr

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Um ganz ehrlich mit sich zu sein, musste Ethan sich eingestehen, dass er nicht genau einordnen konnte, wie er zu seiner erdachten Stuhl-Person stand. Der Junge schmunzelte über sein eigenes Wortspiel.
Wollte er selbst angesehen, eindrucksvoll und dominant sein? Oder wollte er eine solche Person als seinen Beschützer? Lag es daran, dass er sich nie selbst beschützen konnte? Oder daran, dass ihn nie jemand beschützt hatte?
Schnell setzte sich Ethan auf den Stuhl. Die ganze Welt war ihm überlegen und jetzt auch noch ein Möbelstück. Die Machtübernahme erfolgte- wie jede Machtübernahme, nicht makellos. Der Stuhl fühlte sich auf einmal seltsam an und Ethan rutschte hin und her, verzweifelt nach einer angenehmen Position suchend. Schließlich ließ er ein Bein angewinkelt auf dem Stuhl stehen und das andere locker hängen. So ließ es sich aushalten. Das Möbelstück unter ihm gab ein knarrendes Geräusch von sich. Der Junge deutete dies als Friedensangebot.
Eigentlich wollte er keine Führungspersönlichkeit sein, und war es vermutlich auch nicht. Allerdings hatte er ein Problem mit Führungspersönlichkeiten. Die Stuhl-Geschichte hatte ihm dies nur deutlich gemacht.
Wenn ihm ein einfacher Stuhl schon solche Probleme bereitete, wie würde er dann bei einem Menschen reagieren?
Ein leises Seufzen umspielte seine Lippen, bahnte sich einen Weg über die Schreibtischplatte zur Tür. Dort betätigte das Seufzen den Türknauf und war in der nächsten Sekunde in die weite, anonyme Dunkelheit vieler leiser Seufzer entflohen.
Ethan wusste nicht wer er war oder wer er sein wollte. Klar war ihm nur, wie er nicht sein wollte. Das war immerhin schon ein Anfang. Oder?
Augenblicke verstrichen, in welchen sich der Junge fragte, ob ihm ein anderes Aussehen besser stehen würde. Große grüne Augen, dunkleres Haar, weißere Zähne, ein lässigeres Auftreten.
Erschrocken stellte er fest, dass er gerade Adam beschrieben hatte.
Adam.
Möglicherweise, überlegte er, stieg einem sein Aussehen manchmal zu Kopf. Wer sich nie für eine krumme Nase geschämt hatte, wusste nicht, wie es sich anfühlte alle Augen auf einen gerichtet zu sehen, verächtliche Blicke im Nacken zu fühlen. Oder sich so etwas zumindest einzubilden. Adam jedenfalls war das niemals passiert. Hätte er, Ethan, nur Adams Aussehen, ja dann... Dann wäre auch er ein abgehobener Soziopath, ohne jede Art von Empathie.
Andererseits wüsste er ja noch wie es sich angefühlt hatte Ethan zu sein. Besser gesagt er war Ethan, nur in anderer Ausführung. Wenn das so war, dann wäre er praktisch der bessere Adam.
Nein, stopp. Adam war ja gerade wegen seines (wenn auch unangenehmen) Charakters er selbst. So wie Ethan auch. Es konnte gar keinen "besseren" Adam geben, da alles was Adam war durch Details wie beispielsweise sein Aussehen bestimmt wurde.
Hier war er wieder: Der mysteriöse Drang eine starke Persönlichkeit zu sein, aber diese nicht sein zu wollen. Oder anders herum? Wollte er eine sein, aber war keine?
Das viele Denken machte Ethans Hirn kaputt. Glücklicherweise wurde in jenem Moment die große Tür geöffnet und zwei Personen traten ein, begleitet von einem Kopfnicken seitens Doktor Meyer, dessen runde Brille gerade noch durch den Türspalt linste.

Was darf ich hoffen?Where stories live. Discover now