Fünfzehn: Familienbande

67 16 58
                                    


KÖNIGREICH ESYLLT

NEVA

Wie verzaubert stand ich auf der Schwelle des hell getäfelten Zimmers und starrte die Frau vor mir an. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein so hinreißendes Wesen gesehen. Lächelnd bedeutete sie mir, einzutreten.

"Blanche, jetzt nimm mir sie nicht weg!", quengelte Eira hinter mir. 

Die schöne Frau vor mir- Blanche-verzog keine Miene, sondern packte mich am Handgelenk und führte mich zu dem kleinen Podest in der Mitte des Raumes.

"Du musst Neva sein.", begrüßte sie mich. 

"Wir werden dir etwas passenderes anziehen, als dieses..", mit Blick auf mein kurzes Nachthemd rümpfte Blanche ihr zierliches Näschen, "..diese Schande von einem Kleid."


Ich bekam kaum mit, wie die beiden Schwestern immer mehr Kleidungsstücke aus dem Nebenraum holten und mir nacheinander überstülpten, so abgelenkt war ich immer noch von Blanches Anblick. Bei jeder ihrer Bewegungen funkelten die winzigen Diamanten in ihren bodenlangen Haaren im Licht der Kerzen. Die glatten Haarsträhnen waren ebenso weiß wie die von Eira, lediglich die Spitzen schimmerten in einem dunklen Grau. Sie war einfach atemberaubend.


Ein kleiner Stoß in meinem Rücken ließ mich wieder etwas zu mir kommen. Erst jetzt merkte ich, dass ich die letzte Minute vergessen hatte, Luft zu holen.

Nur am Rande bekam ich mit, wie Eira sich auf die Zehenspitzen stellte und Blanche kichernd etwas ins Ohr flüsterte. 

"Blanche, du bist zu gut, sie hat einfach zu Atmen aufgehört.", Begeisterung schwang in Eiras Stimme mit. 

Meint sie mich?

Energisch schüttelte ich den Kopf. Ich musste mich verhört haben. Jemand so liebenswertes wie Eira würde niemals so etwas sagen!

"Na na, du musst stillhalten Neva, sonst wird es schwierig, dir ein passendes Kleid zu finden.", Blanches tadelnde Worte versetzten mir einen Stich. 

Eifrig richtete ich meinen Kopf wieder nach vorne; darum bemüht, von jetzt an so still wie möglich zu stehen. Immer noch hatte ich keinen blassen Schimmer, was die beiden Schwestern mit mir vorhatten, doch es kümmerte mich nicht. Nie war ich glücklicher gewesen, als jetzt, soviel stand fest. 






CHION

Mit weit ausholenden Schritten ging Chion den unendlichen Gang aus gefrorenem Schnee entlang, der direkt in den Speisesaal führte. Er kannte seine Schwestern gut genug, um zu wissen, dass er sie dort finden würde. Eira und Blanche hatten ihre Vorgehensweise all die Jahrzehnte nicht geändert, heute würde es nicht anders sein.

Chion schnaubte. 

Die beiden scheinen vergessen zu haben, wer sie aufgezogen hat.


Esyllt war ein Märchenreich, in dem der Schnee herrschte; das ganze Jahr über war der Boden gefroren und die Nächte kalt. Aus diesem Grund wurde in jeder Generation ein Herrscher gewählt, der dieser Naturgewalt mit seiner ureigenen Magie Einhalt gewähren sollte. Nach allen Überlieferungen war diese Person bis zur letzten Generation eine Frau gewesen. Chion war der erste Mann in der Linie der Schneekönige; und wie es aussah, nicht der letzte.

The Fairytale Of A WitchWhere stories live. Discover now