Dreizehn: Im Schloss der Eiskönigin

Start from the beginning
                                    

Das kann ja lustig werden. 

Schon bald begann, der Heiltrank zu wirken und ich spürte, wie meine Augenlieder schwer wurden.





Als ich nach einiger Zeit wieder erwachte, war der kleine Junge verschwunden. Mein Blick schweifte durch das weitläufige Zimmer und blieb an einer Türe hängen, die in ein Nebenzimmer zu führen schien und nur angelehnt war. Vorsichtig schlug ich die Decke zurück und schwang meine Beine über den Bettrand. Langsam stand ich auf; eine Hand klammerte ich dabei fest um den Bettpfosten, für den Fall, dass meine Beine mein Gewicht nicht tragen konnten. Entgegen meiner Erwartungen konnte ich ohne Schmerzen stehen. Prüfend belastete ich erst das eine, dann das andere Bein. Nichts.

Erleichtert atmete ich aus. Chion hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Dankbarkeit durchströmte mich. Vielleicht hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Immerhin war er mir gefolgt und hatte jetzt sogar mein Leben gerettet. Auch wenn er etwas abweisend war und Anstand für ihn ein Fremdwort zu sein schien- Chion war dennoch ein guter Mensch.

Er wird nicht ohne Grund als nächster Hexer ausgewählt worden sein.


Schwerfällig tappte ich durch den Raum, auf die angelehnte Türe zu. Als ich in den angrenzenden Raum trat, hielt ich kurz inne. Das letzte Mal, dass ich einfach so einen dunklen Raum betreten hatte, war nicht gut geendet.

Mit einem leisen Knarzen trat ich über die Türschwelle und auf den hellen Holzboden dahinter. Ich befand mich im Ankleideraum eines Mannes. Wobei die prächtigen Kleidungsstücke eher auf einen König, als einen einfachen Mann schließen ließen. 

Wo hat Chion mich hier nur hingebracht?

Eine Reflektion lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen verhüllten Gegenstand auf der anderen Seite des Zimmers. Neugierig trat ich näher. An einer Ecke war das Tuch bereits beiseite gerutscht, sodass ich einen Teil des Spiegels darunter erkennen konnte. Meine Spiegelung in dem grauen Glas sah mich ängstlich an; die Streifen meines weißen Verbands um meinen Bauch ließen mich zusammen mit meinem weißen Nachtkleid fast wie einen Geist aussehen.



"Geh da weg Neva!", eine nur zu bekannte Stimme rollte durch den Raum. Sie war so eiskalt, wie an dem Tag, an dem wir uns das erste Mal getroffen hatten. Kein Funken Mitgefühl war mehr erkennbar.

Habe ich mir das Ganze etwa nur eingebildet?


Schnell verringerte Chion den Abstand zwischen uns und hob mich auf seine Arme. Ohne dabei auf meinen Protest zu achten oder unbedachten Hautkontakt zu vermeiden, trug er mich zurück zum Bett und legte mich darauf ab. Sprachlos blickte ich nach oben. 

Seit wann berührt er denn freiwillig Andere?

Chion hatte sich bereits wieder umgedreht und schob nun einen kleinen Tisch näher an das Bett. Dann stellte er eine große Schüssel mit Wasser direkt unter meinem Kopf ab und kniete sich auf den Boden.

"Deine Haare sind voller Blut, ich wasche sie dir.", erklärte er und  schenkte meinen erbosten Blicken dabei keine Beachtung. 

"Du darfst dich nicht viel bewegen, sonst reißt die Wunde an deiner Seite wieder auf.", kommentierte Chion meine Grimassen. 

Aha sowas sieht er dann wieder.

Ich schluckte einen spitzen Kommentar herunter, der mir bereits auf der Zunge gelegen hatte und ließ Chion gewähren.

Mit geübten Bewegungen fasste Chion meine langen Haare zusammen und ließ sie in das Wasser gleiten, dann fuhr er in langen Strichen bis zu meiner Kopfhaut. Dort begann er, ein wohlriechendes Öl einzumassieren; durch die sanften kreisenden Bewegungen lösten sich die Krusten getrockneten Blutes spielend leicht. Genießerisch schloss ich meine Augen. Mein Leben lang hatte ich meine Haare selbst waschen und kämmen müssen- bei dieser Länge ein schwieriges Unterfangen. Es war schön, dabei zur Abwechslung Hilfe zu bekommen.

Sanft wrang Chion meine Haare aus begann, sie mit einem Kamm und noch mehr Öl zu entwirren. 

"Woher kannst du das?", ich verfluchte mich für meine Neugierde, die mich automatisch diese Frage hatte stellen lassen.

"Ich habe Schwestern.", Chion war zu seinem kühlen Tonfall zurückgekehrt; hätte ich vorhin nicht mit eigenen Augen die Wärme in seinem Blick gesehen, würde ich nicht wissen, dass dies nur Fassade war.

Es reicht.

Entnervt drehte ich mich zu Chion um. Dass meine immer noch nassen Haare dabei Wasser über das komplette Bett verteilten, war mir egal.

"Hör auf damit.", empört verschränkte ich die Arme vor der Brust.

"Was meinst du?"

"Du weißt genau, was ich meine.", herausfordernd hielt ich seinem Blick stand.


Ertappt sah Chion weg; widersprüchliche Gefühle spiegelten sich in seinem Gesicht. Einige Minuten rang er mit sich selbst, dann setzte er sich neben mich und vergrub resigniert seinen Kopf in beiden Händen. Nachdenklich betrachtete ich die schimmernden schwarzen Strähnen, die immer unordentlicher von seinem Kopf abstanden, je länger er sich verzweifelt durch die Haare fuhr. Einem Impuls folgend, nahm ich eine seiner Hände in die meine. Maeve hatte diese Geste beruhigt, vielleicht würde es auch bei Chion funktionieren?

Überrascht sah Chion auf. Er machte jedoch keine Anstalten, seine Hand wegzuziehen. Das Medaillon glühte auf meiner Brust, als Chion zu erzählen begann.

"Seit wir hier sind, kann ich mich.. erinnern. Es ist, als wäre meine Vergangenheit hinter einem Schleier verborgen gewesen; als hätte irgendetwas sie versteckt. Und dieser Ort..", mit einer weit ausholenden Geste umfasste Chion den ganzen Raum, ".. er hat meine Erinnerungen zurückgebracht." 

Chion stand auf und lief zu dem Tisch, dann kam er zurück und blieb mit dem Weltenbuch in der Hand direkt vor mir stehen.

"Das heißt, du kannst dich an alles erinnern? Woher du kommst?", hakte ich nach.

"Ja.", Chion nickte bestätigend.

"Aber das ist doch toll!", aufmunternd lächelte ich ihm zu. Ich freute mich, dass er endlich Antworten auf seine Fragen gefunden hatte.


Doch Chion schien alles andere als glücklich. Trauer spiegelte sich in seinem Blick, als er zu mir heruntersah.

"Du verstehst nicht..", begann er.

Was ist los?

"Dann erzähl es mir!", unterbrach ich ihn kurzerhand und klopfte einladend auf den freien Platz neben mir.

Ohne zu antworten, ließ sich Chion zurück auf das Bett fallen und stützte seine Arme erneut auf seinen Oberschenkeln ab.

"Bitte.", fügte ich deshalb hinzu und legte Chion eine Hand auf seine Schulter.

Statt weiterer Erklärungsversuche legte Chion mir nur das Weltenbuch in den Schoß. Es war im letzten Kapitel aufgeschlagen; die erste Seite zeigte ein prächtiges Schloss aus Eis und Schnee. Chion tippte mit dem Finger auf eine bestimmte Zeile.

"Das hier.. das bin ich."


The Fairytale Of A WitchWhere stories live. Discover now