5. Der Feind?

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Donnerstag, 29.09.2005

Mittlerweile waren schon 9 Tage vergangen, seit Kazutora Kaya das erste Mal gesehen hatte. Er war ihr unter der Woche immer wieder in der Schule über den Weg gelaufen, doch nach dem Unterricht hatte er sie nicht wieder gesehen.
Es war offensichtlich, dass die Kleinere versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, nur weswegen konnte er sich nicht erklären. Immerhin konnte nicht nur er dieses warme Gefühl haben, wenn er in ihre Augen sah.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich so sehr von einem Mädchen angezogen fühlte. Zu Beginn dachte er noch, dass es einfach nur Neugier war, auf diese waghalsige kleine Draufgängerin, die mit einem Schläger aus der Schule getürmt war. Doch mittlerweile war ihm bewusst geworden, dass mehr dahinter steckte. Sein Blick suchte automatisch nach der schwarzweißhaarigen Musterschülerin, die sich meist am Rande der Meute aufhielt. Oder sie saß mit ihrer Freundin abseits und hörte sich die unendlichen Geschichten dieser an.
Erstaunlicherweise, schaffte Iwasaki es mit Bravour innerhalb der Lehranstalt zu verbergen, wie ihr Charakter in Wirklichkeit aussah.
Auch dieser kleine Schimmer des fragilen Vertrauens, das Kaya ihm gegenüber schließlich doch hatte, ließ sein Herz etwas schneller schlagen. Denn keiner der anderen kannte diese Seite an ihr, nicht einmal ihre beste Freundin.

Heute Morgen war er ihr direkt vor dem Schultor begegnet und hatte einfach so ihre Tasche genommen. Ganz ohne zu fragen oder sie darum zu bitten, das schwere Teil ihm zu übergeben. Er wollte Kaya nur bis hineinbringen und eine nette Geste zeigen. Doch dafür hatte er einen wütenden Blick aus den karamellfarbenen Augen kassiert. Sie hatte ihm die dunkle Ledertasche mit einem: „Schon gut, ich schaffe das alleine", wieder entrissen und war dann mit eiligen Schritten ohne ihn hineingegangen.
Schon die Erinnerung daran ließ ein ehrliches Lächeln auf seinen Lippen tanzen. Eigentlich waren sie sich in den letzten Tagen doch näher gekommen. Dachte er zumindest, doch aus einem ihn vollkommen unverständlichen Grund, schaffte er es nicht über eine gewisse Distanz hinaus.
Und dann war es beinahe so, als würde die gepiercte Schauspielerin, einen Reset Button drücken und das ganze einfach zu einem willkürlichen Punkt zurücksetzen. Zu einem Augenblick, in dem er ihr nicht so nahe war, in dem er nicht diese kurze wie ein Blitz auf zuckende Zuneigung ihm gegenüber in ihren tiefen Iriden erkennen konnte.
Dabei hatte genau dieses kurze Aufblitzen sich bis in sein Herz geschlichen, es war ein Hauch von Sucht, die er dafür entwickelt hatte. Denn sonst zeigte sich die Vorzeigeschülerin anderen Menschen gegenüber sehr distanziert und abweisend. Nur bei ihm ließ die Gepiercte ihre Maske fallen, er konnte hinter die Wand aus Höflichkeit blicken und die wilde und sprunghafte Kaya kennenlernen.
Auch, wenn er gerne mehr Zeit mit ihr außerhalb der Schule gehabt hätte. Doch sie hatte ihm bisher noch nicht geschrieben, oder angerufen und das wo sie doch seine Nummer hatte.

Als er die Augen schloss, sog er die warme Luft des Klassenzimmers tief in seine Lunge und erinnerte sich an den zitronig-harzigen Duft von Kaya. Alleine die Erinnerung daran ließ sein inneres viel ruhiger werden. Es war beinahe wie ein Zauber. Am liebsten würde er ihren schlanken Körper nun an sich drücken und seine Nase in den weichen Haaren vergraben, nur um dieses erdende Gefühl zu bekommen. Seine Gedanken kreisten nur noch darum, wie er sich wohlfühlen würde, wenn sie ihm endlich vertraute und von sich aus seine Nähe suchen würde. Wie es wäre, wenn sie sich an ihn schmiegte und die Wärme ihres Körpers auf ihn überginge. Wie sich ihre Finger in seinen Haaren anfühlten und ihre Lippen auf seinen. Kazutora wusste, dass er seine Kleine nicht mehr loslassen wollte.
Kaya sollte für immer an seiner Seite sein, Teil seines Lebens und er würde alles dafür tun, dass sie genau das wurde.

Das grelle Klingeln der Schulglocke holte ihn wieder zurück in den Klassenraum. Kaum war der letzte Ton des Freiheitsleutens verklungen, konnte er die Stimmen seiner Mitschüler hören. Das Kratzen der Stuhlbeine über den Boden und die geschäftigen Schritte.
Er selbst würde sich keinen Stress machen, um hier wegzukommen, wozu auch? Er hatte nichts vor und wollte heute nur etwas durch die Straßen bummeln. Nachhause würde er erst gehen, wenn es richtig spät war.
Gemächlich packte er den vollgekritzelten Block in seine Tasche und stand dabei von dem leise knarrenden Stuhl auf. Kurz streckte er seine Arme etwas und bog den Rücken durch, lange Sitzen war noch nie etwas, dass er gerne machte.
Erst mal würde er sich etwas zu Knabbern besorgen. „Mh, vielleicht hole ich mir ein paar Pocky", murmelte er zu sich selbst und schulterte dabei seine Tasche. Gelassen verließ Kazutora den Klassenraum und begab sich zu seinem Fach, um die Straßenschuhe herauszunehmen und anzuziehen.
Die anderen Schüler waren schon beinahe alle verschwunden und damit wohl auch Kaya. Das fiel ihm in dem Augenblick ein, als er an ihrem Fach vorbeiging. Wenn er sich beeilt hätte, hätte er sie vielleicht begleiten können. Eventuell hätte sie ja sogar ihre Zeit mit ihm verbracht.
Seine sandbraunen Augen blieben an dem Namensschild hängen und er legte den Kopf ein wenig schief. Das leise Klirren seines Ohrrings erklang und ein sanftes Lächeln schmückte seine Lippen. „Morgen."


Vicinity [Tokyo Revengers]Where stories live. Discover now