Eins: Die weiße Hexe

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KÖNIGREICH KREONIEL, HEXENSCHLOSS

NEVA

Ich trat auf den Balkon hinaus und ließ die sanfte Brise mein Gesicht kühlen. In Kreoniel wurde es nie wirklich warm und so war auch mittags kaum etwas von der Sonne zu spüren. Schuld daran war der riesige Tannenwald, der das Schloss wie eine undurchdringliche Mauer aus Zweigen und Blättern umgab. Hier und da führten kleine Trampelpfade hindurch; auf ihnen konnte man in alle Reiche der Märchenwelt gelangen.

Heute lag jedoch eine gewisse Spannung in der Luft. Als würde dieser Tag mein gesamtes Leben verändern. Energisch schüttelte ich den Kopf. Das war einfach nur lächerlich. Ich wusste genau, was heute für ein Tag war. Ich hatte mithilfe der riesigen goldenen Sanduhr auf dem Vorplatz des Schlosses jede Stunde gezählt; hatte genauestens Buch geführt, um den endgültigen Moment nicht zu verpassen. Die letzten Jahre hatten einige Zweifel in mir gesät. Dennoch hatte ich nie Angst oder Trauer verspürt, denn dazu waren wir Hexen nicht in der Lage.


Vor allem anfangs hatte ich mich immer wieder gefragt, was nach diesem Tag passieren würde. Denn heute würde ich sterben und mich zu Staub auflösen, so wie all die Hexer und Hexen vor mir. Jahrelang hatte ich die alten Aufzeichnungen in der unterirdischen Bibliothek des Schlosses gelesen; nach einer Antwort auf diese Frage gesucht. Doch gefunden hatte ich nur noch mehr Rätsel. Wir Hexen hätten alle unterschiedlicher kaum sein können; keiner glich dem anderen. Das Einzige, was wir gemeinsam hatten, war die Tatsache, dass wir von den Göttern erwählt worden waren. Doch warum? Kritisch musterte ich mein Abbild im Wandspiegel, der sich auf der gegenüberliegenden Seite meines Bettes befand. 

Lange weiße Haare fielen mir in wirren Locken bis zur Hüfte, mein Gesicht war schmal und endete in einem spitzen Kinn, was meine hellbraunen Augen größer wirken ließ, wie die eines kleinen Mädchens. Das einzig Sanfte in meinem Gesicht waren meine Lippen, die nie ihre rosige Farbe verloren und einen seltsamen Kontrast zu meiner blassen Haut bildeten. Selbst mein Körper war schmal und dünn; man hatte mich aus der Ferne schon oft mit einem Kind verwechselt. 

Abrupt wandte ich mich von meinem Spiegelbild ab und riss meinen Schrank auf. Es war lächerlich, dass ich mir über mein Aussehen Gedanken machte. Es gab in diesem Schloss schließlich niemanden, der mich sehen könnte.

Hastig fischte ich meinen schönsten Mantel und ein Paar gefütterte Stiefel, die ich sonst nur an meinem Geburtstag trug, aus dem dunkel glänzenden Ebenholzschrank und zog mich fertig an. Der graue Stoff des Pelzmantels bildete einen hübschen Kontrast zu meinem blauen Seidenkleid, dass ich darunter trug. Blau war schon immer meine liebste Farbe gewesen, seit ich das erste Mal den Himmel gesehen hatte. Das war mindestens zwei Jahrzehnte her; ich hatte Kreoniel in letzter Zeit nicht mehr verlassen. 




Ein letztes Mal legte ich den Weg zu meinem Arbeitsplatz zurück. Er befand sich am höchsten Punkt der Burg; in einem Turm, von dem aus man fast alle anderen Reiche im Blick hatte. Zumindest theoretisch, denn seit ich denken konnte, umhüllte dichter Nebel den Turm. Doch für meine Aufgabe war eine gute Aussicht nicht vonnöten. 

Das Arbeitszimmer selbst bestand aus unzähligen Spiegeln, die in allen Formen und Farben an den Wänden und von der Decke hingen. Zielstrebig bahnte ich mir meinen Weg zur Mitte des Raums, in der majestätisch ein riesiges Leserpult thronte. Es war so groß, dass ich einen Hocker brauchte, um das Buch lesen zu können, das auf ihm drapiert war. Bei dem Buch handelte es sich nicht um irgendein Buch, sondern um das Weltenbuch. So hatte es der erste Hexer getauft, und der Name schien so passend, dass ich ihn übernommen hatte. Das Weltenbuch erlaubte es mir, die Übersicht über die magischen Reiche zu behalten. Sollte etwas schieflaufen, wies mich das Buch umgehend mit leuchtend roten Buchstaben darauf hin.

Konzentriert blätterte ich Seite für Seite um; kontrollierte ein Reich nach dem anderen. Mit jeder Märchenwelt, über die ich in dem Buch las, leuchtete ein anderer Spiegel im Raum hell auf; sollte meine Hilfe benötigt werden, würde ich durch ihn direkt in das entsprechende Reich gelangen. Einer der ersten Hexer hatte es "Teleportation" genannt. Aber Merlin hatte für meinen Geschmack zu viele seiner 100 Jahre im Reich Camelot verbracht und war auf seine alten Tage vermutlich senil geworden. Wie sonst hätte er auf ein Wort kommen können, das absolut nichts mit dem Vorgang selbst zu tun hatte? Ich verwendete deshalb den Begriff "Spiegelreisen", das verstanden auch die Bewohner der Märchenreiche, die ich mit Hilfe dieser Reiseart oft überraschend aufsuchte, besser.




Die Sonne ging langsam unter und ließ mich in nebligen Zwielicht zurück. Damit war meine Arbeit getan. Ich klappte das Buch zu und machte mich auf den Weg nach unten; ich wollte meine letzten Momente nicht in diesem Schloss verbringen. Das Knurren meines Magens ignorierte ich; durch meine Unsterblichkeit musste ich nicht zwangsläufig etwas essen, um am Leben zu bleiben. Nach ein paar Jahren des stetigen Bemühens, ein normales Leben führen zu wollen, hatte ich schließlich auch das Kochen aufgegeben und mir seitdem einiges an Zeit gespart. 

Kurz kehrte ich in mein Zimmer zurück, um eine Schatulle aus einer verborgenen Nische in der Wand zu nehmen. Sie wog schwer in meiner Hand, doch noch schwerer wog das Wissen, um das, was sich darin befand. Ein einziges Mal hatte ich die Schatulle aufgemacht; einmal, als ich gerade neu zur Hexe bestimmt worden war. Alles war noch so aufregend und neu gewesen; es gab immer etwas zu tun. Doch ich fühlte mich bereits damals anders, innerlich leer. Als ich dann die Kiste gefunden  hatte, wusste ich auch wieso: die Quelle meiner Empfindungen lag darin; zu Eis erstarrt und in silbernen Ketten auf weißes Samt gebettet. Kein Spritzer Blut war zu sehen gewesen und ich atmete dank meiner neu gewonnenen Unsterblichkeit nach wie vor, doch ich war eine Andere. Das war der Teil, den wir Hexen opfern mussten, um unseren Posten antreten zu können. Der Teil, den keine Aufzeichnung je erwähnt hatte.



Die große Standuhr in der Eingangshalle des Schlosses schlug Mitternacht, es war soweit. Ich richtete mein Gesicht gegen den wolkenverhangenen Nachthimmel und wartete. Die Minuten verstrichen. Und nichts passierte. Verwirrt schlug ich meine Augen wieder auf. Warum zerfiel ich nicht zu Staub? War ich etwa bereits tot? Nein, dieser Ort konnte unmöglich mein Jenseits sein. Siedend heiß fiel mir plötzlich der Gegenstand in meiner Hand wieder ein. Mit zittrigen Fingern riss ich die Schatulle auf. Und erstarrte. Sie war leer. Mein Herz war spurlos verschwunden.



The Fairytale Of A WitchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt