Schritt für Schritt die Treppe hinunter

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind nicht frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist nicht zufällig, sondern ausdrücklich erwünscht.

Ich habe bedenkliche Wissenslücken, wenn es um einen perfekten Mord geht. Während die Energiesparlampe über dem Esstisch langsam heller wird, decke ich Teller und Besteck auf und beobachte meine Mutter, die gerade eine dampfende Suppenschüssel hereinbringt. Alleine durch ihre Präsenz gehe ich wieder in den Verteidigungsmodus über und wäge meine Möglichkeiten ab: Wenn meine Mutter morgen tot umfallen würde, müsste der Arzt, der ihren Tod feststellt, in jedem Fall eine Autopsie anordnen? Mein Blick schweift von meinem Vater zu meinem Bruder, die am Tisch sitzen und darauf warten, dass endlich das Abendessen serviert wird. Sie ahnen wohl nicht, was gerade in meinem Kopf vor sich geht.

Vielleicht sollte ich häufiger Kriminalromane lesen oder mir ein paar DIY-Videos auf einem fremden Handy anschauen.

Wie immer bereue ich meine absurden Fantasien sofort. Wenn meine Mutter heute sterben würde, wäre unser Leben wirklich besser? Wie würde mein Vater damit zurechtkommen? Wie nahe stehe ich dieser Frau eigentlich noch?

Sie kommt mir schon lange nicht mehr zu nahe. Im Gegenteil, sie nutzt jede Situation, um mich zu erniedrigen. Sie glaubt, dass ich ihren Feinden hörig bin. Und während ich mir überlege, wo ich Cyanid-Kapseln herbekommen könnte und ob man wirklich einen Menschen zu Wurst verarbeiten kann, tischt meine Mutter gerade die Vorspeise auf.

Es gibt Leberknödelsuppe. Natürlich, denn Leber bleibt beim Schlachten immer übrig. Ich weiß nicht, wie häufig ich schon Leberspätzle, Leberwurst oder Leber mit Zwiebeln in Cognac-Sauce gegessen habe. Der vertraute Geruch täuscht meine Wahrnehmung: Als wäre alles wie früher.

„Wusstet ihr, dass Leber viel Vitamin B12 enthält? Das soll gut für das Immunsystem sein."

Ich runzle die Stirn. „Ich glaube du verwechselst da etwas, Mama. Vitamin D ist gut für das Immunsystem."

„Jacke wie Hose!", fällt mir mein Bruder Tim ins Wort. „Nachdem es Corona gar nicht gibt, ist das doch eh egal, oder, Mama?"

Ich trete Tim unter dem Tisch gegen sein Schienbein und schüttle fast unmerklich den Kopf. An meinen gefletschten Zähnen erkennt er, dass ich es mehr als ernst meine. Aber er denkt gar nicht daran, sich von meiner stillen Drohung einschüchtern zu lassen.

„Ich habe mich übrigens impfen lassen", erwähnt Tim beiläufig, als würde er von seinem Arbeitstag erzählen.

Meiner Mutter fällt der halbvolle Suppenlöffel zurück in die Schüssel. Sie sinkt rückwärts auf ihren Stuhl und atmet hektisch, während ihr rechtes Augenlied zweimal kräftig zuckt.

„Warum du auch noch? Von deiner Schwester habe ich ja nichts Anderes erwartet. Aber du warst doch auf so einem guten Weg!"

Und da ist er wieder. Der Vorwurf, den mir meine Mutter in den letzten Jahren immer wieder vor die Stirn geknallt hat. Ich hätte sie verraten. Ich brächte ihr keine Dankbarkeit, keinen Respekt aber vor allem keine Wertschätzung entgegen, da ich mich für den falschen Weg entschieden habe. Für einen Weg gegen ihre Wahrheit.

Seit zwei Tagen bin ich zurück in unserem 200-Seelen-Dorf, irgendwo im Nirgendwo. Meine Mutter ist hier geboren und hat gemeinsam mit meinem Vater die Familienmetzgerei übernommen. Bis auf ein paar Italienurlaube, hat sie unser Dorf nie verlassen.

Nach den letzten einsamen Wochen, die ich abgeschottet von der Außenwelt im Wohnheim verbracht habe, um an meiner Masterarbeit über Flüssigkeitschromatographie zu schreiben, hat sich in mir ein kindliches Heimweh entwickelt. Ich sehnte mich nach dem speziellen Geruch von Papas Schlachtküche. Ich hatte auf einmal wieder Lust auf Salzknöchle und Sauerkraut. Ich wollte nach Hause kommen und die Geborgenheit meiner Familie spüren, so wie ich sie aus Kindertagen in Erinnerung habe. Als meine Mutter meinen Bruder und mich noch nicht als vollwertige Erwachsene angesehen und uns deshalb ihre speziellen Ansichten erspart hatte.

Schritt für Schritt die Treppe hinunterWhere stories live. Discover now