Ich schlucke, als mir klar wird, dass ich an der Schulbücherei vorbei muss. Hoffentlich sieht mich Susanne nicht und steckt ihren Kopf in einen Roman. Dass ich mich hier aufhalte, kann natürlich auch daran liegen, dass ich auf seriösem Weg das Sekretariat aufsuche. Falls Frau Weber aber auffallen sollte, dass ein Ordner nachher anders steht und sie Susanne nach Verdächtigen fragt, bin ich geliefert.

Ich riskiere einen kurzen Blick ins Fenster. Die Bibliothekarin ist gerade dabei Bücher ins Regal zu sortieren. Ich atme erleichtert auf. Ich biege um die Ecke und stelle fest, dass unser Plan ein voller Erfolg war. Die Seitentür steht einen Spalt breit auf, für Uneingeweihte wäre es kaum sichtbar. Ich schaue mich nach allen Seiten um. Rechts runter ist das Lehrerzimmer. Daumen gedrückt, dass keiner von ihnen in dieser Sekunde herauskommt, weil er gerade eine Freistunde hat.

Ich ziehe die Tür auf ... und bin drin. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Lennja hat mir beschrieben, aus welchen Schrank Frau Aicher damals die angeforderten Akten von Frau Weber bekommen hat. Es ist der Schrank auf der linken Seite. Die erste oder zweite Tür direkt – wenn man von dem Empfangstresen aus guckt.

Obwohl die Lautstärke eigentlich keine Rolle spielt, tippele ich auf Zehenspitzen zum Regal. Auch die Schranktür öffne ich vorsichtig und mit bedacht. Das Holz wirkt noch recht neu auf mich. Sie sollte nicht quietschen – und tut es tatsächlich nicht. In einem Hollywoodblockbuster hätte die Tür jetzt ohrenbetäubende Geräusche von sich gegeben. Wie gut, dass wir in der echten Welt leben.

Im Schrank finde ich einen ganzen Haufen an Ordner. Alle von ihnen sind beschriftet, zum Teil mit Bezeichnungen, mit denen ich nichts anfangen kann. Glücklicherweise ahne ich sofort, nach welchem ich greifen muss. Einige Ordner sind mit den Klassenbezeichnungen versehen: 5a, 5b, 6a, 6b, 6c, 7a, ... mein Blick huscht weiter runter. Na bitte! 10b! Der Batzen an Papier darin ist enorm. Ich lege das schwere Ding auf dem Tresen und schlag die erste Seite auf. Da sind wir alle drin – in alphabetischer Reihenfolge. A, B, C ... G wie Geoffrey.

Auf der ersten Seite finde ich allerlei persönliche Daten zu Theos Person. Obwohl mir das beim Überfliegen nicht interessant vorkommt, schieße ich dennoch schnell ein Foto. Ich durchblättere die Akte, ohne sie zu lesen, nur um sie für die Kamera abzulichten. Mir fällt auf, dass Theos Papierstapel dicker ist, als der der Schüler davor. Nicht alles verstehe und behalte ich mir, aber dass er drei Mal sitzengeblieben ist, erscheint mir recht viel. Trotzdem sind das keine Infos, die mir Aufschluss über Theos Vergangenheit und Verhalten geben.

Ich erreiche ein Dokument mit der Überschrift Förderpläne.

Theo hat Schwierigkeiten, sinnentnehmend zu lesen. Das konzentrierte Arbeiten über einen längeren Zeitraum bereitet ihm Probleme.

Da steht noch mehr, nur schaffe ich es nicht, alles zu lesen. Ich bekomme Mitleid, aber keine Antworten. Am Ende des Abschnitts befindet sich eine Klarsichtfolie mit einem linierten Heft. Ich nehme es heraus und gerate ins Staunen. Sie haben ihn beobachtet. Darin befinden sich jede Menge Aufzeichnungen über sein Verhalten. Auch Kommentare sind angefügt. Die Neugierde lässt mich das Fotografieren vergessen, stattdessen beginne ich zu lesen.

Theo schläft regelmäßig im Unterricht. Nach Aussagen der Erziehungsberechtigten tut er dies nachts nicht. Der Besuch beim Arzt erfolgte, welcher Theo an eine psychiatrische Einrichtung überwiesen hat (erfolgreich). Trotzdem zeigen sich seitdem in der Klasse keine Veränderungen. Nach Absprache mit seiner Therapeutin: Theos Psyche befasst sich mit Themen wie Identitätskrise, aber auch Leistungsdruck. Theo zeigt eine deutlich verbesserte Arbeitsbereitschaft, seit er auf Grundlage der Bewertungsmaßstäbe des Förderschwerpunkts Lernen unterrichtet wird. Unausgeschlafen ist er nach wie vor – ebenso schläft er im Unterricht ein.

Was Eisberge verbergenWhere stories live. Discover now