Kapitel 1

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[Alice Weidels POV]

Es war Winter geworden. Dicke Schneeflocken fielen von den dunkelgrünen Tannenzweigen, immer, wenn sich eine dicke Kohlmeise auf einen Ast setze, um ihr Gefieder zu putzen. Die Schneedecke glitzerte unter der Sonne. Es war still, unendlich still. Zu still für ein Haus, in dem ich einst mit meinen Kindern gelebt hatte. Ich sagte das, als wäre es Jahre her – und so fühlte es sich manchmal auch an. Die Trennung war keine leichte gewesen, aber nun war es geschafft. Ich wendete den Blick vom großen Fenster ab, zog die dünnen Vorhänge zu und schlenderte mit meiner Tasse Kaffee in der Hand zu meinem Schreibtisch aus dunklem Walnussholz. Vorsichtig stellte ich die Tasse ab, um nichts zu verschütten, und setze mich anschließend auf meinen Bürostuhl. Es war ungewohnt, alleine zu sein. Selten war ich das gewesen, ich hatte immer Trubel... oder Stress. Entweder waren es die Kinder oder die Politiker im Bundestag, aber immer wollte jemand etwas von mir.  Alice, mach dies... Alice, mach das... Ruhe war ich nicht gewöhnt. Kein Wunder, dass es mir ein fast beklemmendes Gefühl verlieh, alleine in meinem Haus in der Schweiz zu sein und nichts zu machen, außer den Schnee beim Fallen zu beobachten.

Das Telefon klingelte. Schnell nahm ich den Hörer ab. Als ich die freundliche, helle Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, musste ich schmunzeln. Sie hätte mich einfach auf meinem Handy anrufen können, hielt es aber wohl für stilvoller, mich auf dem Festnetz anzurufen, welches eigentlich nur noch aus Dekozwecken neben meinem Schreibtisch stand. „Alice! Genießt du deinen Urlaub?" – „Mehr oder minder.", entgegnete ich mit einem Lachen. „Ich verspreche dir, dass ich über Weihnachten komme, sobald die Sitzungen vorbei sind." Annalena klang motiviert, etwas zu motiviert für meinen Geschmack, doch sie hatte sich längst daran gewöhnt. Nachdem die Sonderungsgespräche im Herbst auf eine Ampel-Koalition herausgelaufen waren, in der auch die Grünen beteiligt waren, war Annalena nur noch am Arbeiten. Nicht, dass es davor anders gewesen wäre. Dennoch war ich deshalb eine Woche früher in den Urlaub aufgebrochen, als sie. Hauptsächlich um die Kinder zu sehen, die nun bei meiner ehemaligen Lebenspartnerin Sarah lebten. Die Schweiz war lange nicht mehr mein erster Wohnsitz und das Haus lange nicht mehr mein Zuhause, vielmehr mein Ferienhaus. Und über Weihnachten würde die vielbeschäftigte Annalena Baerbock endlich kommen und ich war in freudiger Erwartung, dass sie die Leere füllen würde, die ich in den letzten Tagen empfunden hatte. Sie wollte hierher für den Schnee, der sich in Berlin viel zu selten blicken ließ.

Verbotene Koalition II / Baerbock x WeidelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt