Kapitel 20: Gesetze

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Die Urteilsverkündung zog sich über eine Dreiviertelstunde, inklusive der Begründung, Beispielen und abschließenden Worten. Aus Mangel an Fragen wurde die Fragerunde, die normalerweise im Anschluss an die Urteilsverkündung folgte, gestrichen. Abby staunte wenig über das Ergebnis, hatte sie mit ihrem Vater ja die letzte Zeit darüber gesprochen. Im Grunde genommen würde sich nicht viel verändern. Menschen, die an einer ansteckenden Krankheit erkrankten, wurden nun nicht mehr bevorzugt in den Krankenhäusern der Stadt behandelt. Der Zusatz des Infektionsschutzgesetzes stammte noch aus der Zeit der großen Lothar-Virus Pandemie, an dem vor über einhundertachtzig Jahren dreißig Prozent der Menschen in Metropola starben. Mit jenem Zusatz wollte man das Infektionsgeschehen eindämmen und den Betroffenen helfen. Hamsterkäufe, Ausschreitungen und neue Dimensionen von Gewalt und Verbrechen waren die Folge der Pandemie. Manch einer behauptete sogar, dass die Pandemie der Auslöser für die Armut und die zahllosen Verbrechen und der heutigen Konstellation an mafiösen Gruppierungen in der Stadt war. Mit dem heutigen Urteil wurde der von den Konservativen geschilderte Vorwurf der Diskriminierung bestätigt. Der Zusatz im Infektionsschutzgesetz sei mit der Verfassung der Union nicht vereinbar und werde umgehend gestrichen.

An den mit Kunstholz verkleideten Wänden hingen große Tafeln mit Artikeln und Paragraphen der Unionsverfassung. Vor dem Gesetz ist jeder Mensch gleich, lautete Artikel Eins der Unionsverfassung. Jener Artikel prangte mit dicken Buchstaben über den Köpfen der Verfassungsrichter. Darunter war Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, abgebildet. Sie erstrahlte in goldener Farbe, während sie die ausgependelte Waage in ihrer Hand hielt. Abby würde alsbald mit ihrem Jurastudium beginnen, sobald sie ihren Hochschulabschluss in der Tasche hatte. Damit mache ich mich und meinen Vater glücklich und gleichzeitig bewege ich mich damit aus seiner Reichweite. Die Achtzehnjährige freute sich bereits seit Jahren auf die Aussicht, mit den anderen Jurastudenten im Studentenwohnheim im Regierungs-Sektor zu leben. Sie würde ihr eigenes Leben führen, sich eine aussichtsreiche Zukunft aufbauen. Straftaten wurden in der Stadt in Massen begangen. Die Gerichte suchten händeringend nach Strafverteidigern, an denen es im Gegensatz zu Unionsanwälten, Richtern und Verfassungsrichtern mangelte. Nur die wenigsten wollten sich für kleines Geld für einen Schwerverbrecher einsetzen und sich in den Ring mit Unionsanwälten und befangenen Richtern stürzen.

Auch wenn jeder Strafverteidiger in dieser Stadt einen Unterschied machte, träumte Abby davon, es besser als die anderen zu machen. Weg mit der Korruption, weg mit den geringen Gehältern für Pflichtverteidiger, und mehr Transparenz in den Reihen der Politik, vor allem im Justizministerium, das sich in den letzten Jahrzehnten kaum für die niederen Schichten der Gesellschaft interessiert hatte. Wenn ich einmal Verfassungsrichterin bin, werde ich für Gerechtigkeit sorgen. Es war ein gewagtes und schwieriges Unterfangen, das war ihr bewusst. Doch wie oft schon sah sie straffällig gewordene Männer und Frauen, junge und alte Obdachlose, Arme und Niedriglöhner, die mit Anwaltskosten überhäuft wurden, sollte der Fall zu ihren Ungunsten entschieden werden. Nur sehr wenige Leute der unteren Schichten trauten sich daher, ihr gutes Recht einzuklagen, wenn ihr Arbeitgeber Überstunden nicht anrechnete, bei den Urlaubstagen trickste oder sie gesetzeswidrig fristlos kündigte. Wenn ein Dieb einer armen Familie das ohnehin schon dürftige Geld stahl, war es an der Familie, dies zur Anzeige zu bringen. Doch die Furcht vor den Kosten ließ die Leute oftmals ohne Entschädigung oder fairen Prozess zurück. Die Unionsanwälte klagten nur bei schweren Verbrechen wie Mord, Totschlag, verschiedenen Drogendelikten und Hochverrat an. Terrorismus war zum Unwort der letzten Jahre geworden. Frauen wurden auf den Straßen missbraucht, Familien auseinandergerissen, tausende Kinder landeten auf den schmutzigen Straßen der Stadt und fielen den dort herrschenden Gangs und Drogen zum Opfer. Doch in den Augen der Union waren es die Aufmüpfigen, die Ungehorsamen, die zu den gefährlichen zählten. Vielleicht wäre eine Revolution tatsächlich angebracht. Leider bestätigten die meisten Aufmüpfigen die Sorge der Union, zumindest wenn man den Medien Glauben schenkte. Selbstmordanschläge, Straßenkriege, Krawalle und Ausschreitungen gehörten schon längst zur Tagesordnung. Die Stadt brannte, und es würde nicht mehr lange dauern, bis nur noch Asche übrig war.

METROPOLA - Band 1 - Der JahrhundertsturmWhere stories live. Discover now