Kapitel 6: Die Tischtennisplatte

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Viviens dunkelbraune Haare wehten im schwachen Frühjahrswind, der bald schon zu einem Sturm heranwachsen sollte, wenn man dem Wetterbericht Glauben schenkte. Ihr Gesicht war gesprenkelt mit Sommersprossen, die sie eindeutig von ihrer Mutter vererbt bekommen hatte. Es gab Tage, da fand sie die kleinen braunen Punkte schön, geradezu umwerfend. An anderen Tagen wiederum schämte sie sich für sie, auch wenn es dafür eigentlich keine nachvollziehbaren Gründe gab. Heute hatte sich Vivien eine luftige bunte Bluse und eine enge hellblaue Jeans angezogen. Hätte ich gewusst, dass es heute wieder so heiß wird, hätte ich diese verdammte Jeans im Kleiderschrank gelassen. Sie war schlank, sodass sie so gut wie alles tragen konnte, was sie in den Schaufenstern der Boutiquen sah. Auch Geld spielte keine Rolle, wobei sie sich schäbig vorkam, ungemein teure Klamotten zu kaufen, während hinter der nächsten Außenwand ein Mensch ums nackte Überleben kämpfte. Schon immer stellte sie sich gegen die Meinung ihres Vaters, der einen regelrechten Hass auf die Menschen, die auf der Straße lebten, entwickelt hatte. Diese Menschen haben es schwer genug, überhaupt zu überleben. Da müssen sie nicht noch den Hass anderer spüren.

Vivien besuchte die siebte Klasse der Farid-Bolson-Schule. Ihre Eltern hätten sie locker auf eine exklusive High Class Schule schicken können. Im Nachhinein war sie ihnen dankbar dafür, dass sie sich für eine zwar gehobene, aber dennoch normale Schule entschieden hatten. An den öffentlichen Schulen Metropolas herrschte das Chaos. Niemand mit ausreichend Geld und Verstand würde sein Kind auf eine dieser Schulen schicken. Eine Internat oder eine High Class Privatschule war aber ebenfalls keine Option für ihre Eltern gewesen. „Du lernst in beiden Schulen zu rechnen, zu schreiben, die Geschichte und Naturwissenschaft", hörte Vivien ihre Mutter heute noch sagen. „Auf einer gehobenen Privatschule der Mittelschicht bist du sicher und gefordert, aber ganz bestimmt nicht isoliert, wie die Bälger der feinen Leute."

Für Vivien war es besonders schwierig, sich eine der existierenden Schichten einzuordnen. Zur Unterschicht, zu der zweifellos ein Großteil der Menschen der Stadt gehörte, zählten die Jets keinesfalls. Die Oberklasse wurde, genau wie die Unterschicht, sowohl von Mama als auch Papa regelrecht zum Feind gemacht. „Hochnäsige Schmarotzer", waren die Worte ihres Vaters gewesen. „Während die Obdachlosen um jeden Bin betteln, betteln die feinen Herren und Damen in ihrem Regierungs-Sektor um Milliarden Cypher." Womit genau Mama und Papa ihre Brötchen verdienten, war Vivien bis heute nicht ganz klar. Ihr war durchaus bewusst, dass sie keine regulären Berufe ausübten, sondern zu den großen Kriminellen der Stadt gehörten, auch wenn sie nach außen hin nicht so wirkten. Ihre Eltern taten ihr bestes, sie von ihren Aktivitäten fernzuhalten, auch wenn sie jedes mal eine Scheißwut auf ihre Eltern entwickelte. Natürlich wollte sie wissen, warum ihr Vater das Haus niemals ohne Waffe verließ, warum sich ihre Mutter so oft mit Aaron, einem Freund der Familie, traf, oder warum Onkel Sharif ein komplettes Hochhaus besaß, auch wenn man Letzteres mit dem prächtigen Casino erklären konnte, das ordentlich Gewinn abzuwerfen schien. Über Geld sprach man in der Familie wenig, und so blieb Vivien letztlich nur eine einzige Option übrig, welcher Gesellschaftsschicht sie angehörte; der Mittelschicht, winzig klein und vom Aussterben bedroht.

Vivien und ihre beiden Freunde kämpften sich durch eine Horde Erstklässler, die dem Wochenende freudiger und vor allem energiegeladener begegneten als die älteren Klassen. Zwischen den beiden Hauptgebäuden der Schule führte ein breiter Weg hinaus auf das große Pausengelände. Die jüngeren Schüler verbrachten ihre Pause hier auf der Schaukel, dem Klettergerüst oder den zahlreichen Rutschen, die bereits Rost angesetzt hatten. Für die Älteren gab es mehrere Tischtennisplatten, ein kleiner Bolzplatz, sowie einen großen und nahezu immer besetzten Baseballplatz. Nur das Footballfeld war nochmal eine ganze Nummer größer. Dort durften jedoch nur die Spieler der Schulliga trainieren. Vivien war das sehr recht. Mit Football und ihren Spielern konnte sie ohnehin herzlich wenig anfangen.

METROPOLA - Band 1 - Der JahrhundertsturmWhere stories live. Discover now