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Es war nicht so, dass sie sich in dem kleinen Apartment mitten in Anchorage, in dem sie seit Geburt an lebte, jemals wirklich zu Hause gefühlt hätte. Klar, die Stadt lag direkt am See und hinter ihr ragten die Berge mit ihren Schneegipfeln empor, aber die Wohnung war grauenhaft. Sie hatte früher Onkel Rob gehört, der sie seiner Schwester, Gill, überlassen hatte, als sie mit ihrer ersten Tochter schwanger gewesen war, bis sie etwas Eigenes gefunden hätte. Es hatte sich herausgestellt, dass Gill sich nie eine eigene Wohnung hatte leisten können und in Onkel Robs Wohnung geblieben war, um zwei Jahre später eine zweite Tochter zu bekommen.

Seitdem lebte sie in dieser Bruchbude und konnte sich glücklich schätzen, Strom und Wasser zu haben. Einmal war ihnen der Strom abgedreht worden, weil ihre Mom zu zahlen vergessen hatte.

Etwa vor zwei Wochen hatte Onkel Rob zum ersten Mal seit Jahren wieder vor der Türe gestanden. Sie hatte ihn nur mit Unbehagen hereingelassen, aber es war seine Wohnung -sie hatte ihm den Zutritt nicht verweigern können. Sie hatte ihn das letzte Mal gesehen, als sie ein Kleinkind gewesen war und er hatte sich kaum verändert. Wellige Haare, die ihm knapp über die Schulter reichten, eine Brille, die ihn aussehen ließ, als wäre er ein verrückter Wissenschaftler und lumpige, ausgewaschene Klamotten.

Er hatte eine Zigarette zwischen den Fingern gehalten, die andere Hand tief in die Hosentasche geschoben und seinen Blick einfach nur durch das Wohnzimmer schweifen lassen, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte nicht gefragt, wie es ihr oder ihrer Schwester ging. Er hatte nicht nach seiner Schwester gefragt, oder wie es mit seinen beiden Nichten jetzt weiter gehen würde. Er hatte lediglich den Zigarettenrauch ausgestoßen, Hannah gemustert, den Glimmstummel auf den Teppich fallen lassen und mit der Sohle seines dicken Schuhs ausgedrückt, bevor er seine aufgesprungenen Lippen geöffnet hatte und seine gelben Zähne zum Vorschein gekommen waren.

„Ich will, dass ihr aus meiner Wohnung verschwindet."

Dann hatte er sich umgedreht und war wieder gegangen. Es wäre eine Untertreibung gewesen zu behaupten, dass er sich nichts aus den Mädchen machte und es ihm völlig egal war, ob sie hinter den Mülltonnen auf der Straße leben mussten. In seinen Augen hatte er genug getan. Siebzehn Jahre hatte er seine Schwester hier wohnen lassen und sie hatte keinen Cent gezahlt.

Sie sah sich um und wunderte sich nicht, dass irgendjemand diese Wohnung einmal hatte loswerden wollen. Letztlich ihr Onkel. Es überraschte sie eher, dass Onkel Rob diese Wohnung überhaupt gekauft hatte. Sie war farblos, die plattgetretenen Teppiche hatten schon bei ihrem Einzug dagelegen und die Rauchschwaden der Zigaretten, die ihre Mom geraucht hatte, zogen sich immer noch quer durch die Zimmer und hatten sich über die Jahre in den Fasern der Couch und der Vorhänge festgesetzt. Eigentlich hatte sich der Gestank überall festgesetzt. An der Kleidung, an den Wänden, an den Büchern, am Geschirr, sogar im Kühlschrank. Sie hatte sich angewöhnt, ihre frischgewaschenen Sachen, die sie in der Schule tragen wollte, an Kleiderhaken aus dem Fenster zu hängen. Nicht nur einmal war ihr dabei ein T-Shirt oder sogar ihre Jacke abhandengekommen, aber alles war besser, als ihre Freunde zu umarmen und wie ein verstaubtes Männerlokal zu riechen. Deshalb duschte sie immer am Morgen und verließ die Wohnung, bevor der Rauch ihre Haare und ihre Haut wieder attackieren konnte.

Das Geschirr türmte sich im Spülbecken und ein paar Fliegen hatten an den Essensresten auf den Tellern eine Futterquelle gefunden. Sie fragte sich, wie diese Tiere überhaupt hereingekommen waren. Sie öffneten nie das Fenster im Wohnzimmer, denn die Nächte in Alaska waren selbst Anfang September recht kühl und die Heizkörper waren alle kaputt.

Eine dunkle Verfärbung zog sich über die Wohnzimmerwände, und kennzeichnete einen früheren Wasserschaden, der Schimmel in den Ecken des Raumes hinterlassen hatte. Dementsprechend roch es auch ziemlich muffig und erinnerte sie daran, warum sie niemals Freunde zu sich einlud. Die Vorhänge waren vorgezogen und verdeckten die ernüchternde Aussicht auf Vogelmist auf den Fensterscheiben und den kargen Hausmauern der umliegenden Gebäude.

Kleine, bunte Magneten hielten immer noch die Zeichnungen am Kühlschrank, die sie und ihre Schwester als Kinder gefertigt hatten. Zwei kleine Strichmännchen Hand in Hand in der Mitte, zwei größere Strichmännchen links und rechts und ein Hund und etwas, das wohl eine Katze sein sollte.

Eine kleine, perfekte Familie.

Sie hatte nie eine Katze gehabt.

„Izzy!", rief sie durch die Sechzigquadratmeter Wohnung. „Wir müssen los! Es ist kurz vor acht!" Sie konnte ihre Schwester in ihrem Zimmer herumgehen hören, wusste aber nicht, ob sie die Absicht hatte, am ersten Schultag im neuen Schuljahr tatsächlich anwesend zu sein. „Izzy!"

„Ich komme ja schon!", brüllte Izzy durch die geschlossene Türe.

Im staubigen Vorzimmerspiegel betrachtete sie sich kurz. Die hellbraunen Haare hatte sie mit dem alten Glätteisen ihrer Mutter bearbeitet. Sie mochte ihre halblangen, unzähmbaren Locken nicht. Jetzt reichten ihr die Haare bis zur Taille und sahen nicht mehr so struppig aus. Sie hatte ein schlichtes, graues Kleid gewählt und sich eine Strumpfhose übergezogen. Beides verschwand unter dem dicken, schwarzen Mantel. Ihre Tasche war mit Block, Stiften, Wasserflasche, Geldbörse und Notfalltäschchen (das Taschentücher, Lippgloss, Handcreme, Parfüm und diversen weiteren Krimskrams beinhaltete) gefüllt. Sie prüfte noch einmal, ob sie auch bloß nichts vergessen hatte.

Guter Dinge lächelte sie ihr Spiegelbild an. „Es wird gut laufen. Das wird ein toller Tag. Wie ein richtiger Neuanfang." Sie hatte versucht, die Narbe unter ihrem rechten Auge abzudecken, aber wenn man genau hinsah, erkannte man sie doch noch. Sie hoffte, dass der scharfkantige Eyeliner und der Lippenstift davon ablenken würden.

Gerade als sie ein drittes Mal nach ihrer Schwester rufen wollte, knallte die Türe zu Izzys Zimmer auf und sie kam mit ihrem schwarzen Rucksack geschultert heraus.

„Du willst so in die Schule?", hakte sie nach und betrachtete die weiten Hosen und den Pullover, in dem ihre Schwester beinahe unterging. Sie hatte gehofft, dass die Sommerferien im Kopf ihrer kleinen Schwester zumindest ein paar Dinge umgeschoben hätten, zum Beispiel ihren Kleiderstil, besonders wenn sie in die Öffentlichkeit ging, aber sie hätte es besser wissen müssen. Izzy nahm ihre Jacke von der Couchlehne, wickelte sich einen dicken Schal um und setzte sich ihre Mütze auf. Ihr war es egal, dass alles nach Zigaretten stank.

Sie wusste es nicht mit Sicherheit, aber sie war sich sicher, dass ihre Schwester ab und zu selbst rauchte.

„Und du?", entgegnete Izzy dann. „Seit wann trägst du klimpernde schickimicki Armbänder und Halsketten? Sind das Moms Ohrringe?"

„Neues Schuljahr, neues Glück", erwiderte sie fröhlich. Sie wollte einen guten ersten Eindruck machen. Das war wichtig. Izzy sah sie ausdruckslos an.

„Eher: Andere Schule, gleiche Hölle. Und du wirst erfrieren. Ich hab nachgesehen. Es wird heute höchstens dreizehn Grad haben. Wenn wir Glück haben. Und wolkig und windig."

Unbeeindruckt öffnete sie die Wohnungstüre, um ihre Schwester als erstes auf den Flur treten zu lassen. Die Nachbarn hatten den Fernseher laut gedreht, und irgendwo stritten zwei Leute und Kinder schrien. Der grüne Linoleumboden quietschte unter Izzys Sneakern und die Röhrenleuchten flackerten und surrten.

„Freitagnachmittag kommt Adam nach seiner Arbeit und holt uns und unsere restlichen Sachen ab."

Izzy kramte einen Kaugummi aus ihrem Rucksack.

„Das heißt, du wirst dich heute nach der Schule nicht zu deinen Freunden verabschieden, sondern dein Zeug zusammen packen", fuhr sie fort. Darauf antwortete Izzy nicht.

Die beiden traten auf die Straße hinaus und machten sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Ihr entgingen weder die Blicke, die Passanten ihr zukommen ließen (vielleicht, weil sie sich für diese Temperaturen wirklich ein wenig knapp angezogen hatte), noch die, die sie ihrer Schwester zuwarfen (vielleicht, weil sie sich generell seltsam angezogen hatte).

„Und kannst du mir einen Gefallen tun?", murmelte sie, als eine junge Dame Izzy von oben bis unten musterte, die Augenbrauen hochzog und den Blick abwandte. „Wenn er kommt, zieh dich nicht an, wie ein verwaister Straßenköter." 

The Edge of LifeWhere stories live. Discover now