Kapitel 84

2.4K 154 452
                                    

>>Was denkst du gerade?<<, fragt mich Daimon aus heiterem Himmel und durchbricht somit die Stille, die sich wohl zwischen den schmalen Rillen der Steinwand eingenistet hat, denn wir haben seit Minuten kein Wort miteinander gewechselt. Mein Gehirn hat bereits seine eigene kleine Uhr entworfen, die unablässig im Hintergrund meines Verstandes tickt, egal ob ich meinen Kopf mit verschiedenen Szenarien einer Flucht oder mit meinem Lieblingssong fülle. Es will einfach nicht aufhören und das macht mich schlichtweg wahnsinnig. Fast genauso sehr wie nichts tun zu können, außer auf meinen vier Buchstaben zu sitzen und mich an Geduld zu erproben.

>>Wir sind gerademal zehn Minuten in einem Kerker eingesperrt und du willst schon so persönlich werden? Bedeutet das, dass du mir am Ende dieses Gesprächs irgendwann auch ein paar Staatsgeheimnisse verrätst<<, necke ich ihn, weil ich nicht weiß, wie ich sonst reagieren soll. Was soll man auch schon zu dem Kerl sagen, den man vor ein paar Stunden geküsst und dann vor den Kopf gestoßen hat? Ja, schon klar, wahrscheinlich sollte ich mir mehr Sorgen darum machen, wie wir hier ohne jegliche Verletzungen wieder rauskommen, als mich um meine Daimon-Krise zu kümmern. Aber die eiskalte Wahrheit ist nun mal, dass ich die Entführungssituation bestmöglich unter Kontrolle habe, während ich mich bei der anderen Sache fühle wie ein verunsichertes Schulmädchen.

Seht ihr, was diese blöden Schmetterlinge mit einem anstellen? Es ist als hätten sie meine gesamten sozialen Kompetenzen aufgefressen und würden mich nur mit einem knauserigen Rest zurücklassen, der es mir verdammt einfach macht in alte Muster zurückzufallen. In diesem Moment spüre ich wieder Daimons bohrenden Blick auf mir liegen und bevor ich mich eines Besseren besinnen kann wende ich ihm schon mein Gesicht zu.

Böser Fehler, wie sich herausstellt, denn seine nachdenkliche Miene ist sowohl beängstigend als auch fesselnd. Keine gute Kombi, wenn man mich fragt, aber wer interessiert sich schon dafür, dass ich widerwillig schon wieder unter dem Bann dieser haselnussbraunen Seen stehe? Ich hoffe für meinen eigenen Seelenfrieden, dass kein Faimon-Shipper einen Blick auf diese Szene erhascht, denn das letzte, was ich jetzt brauche ist, dass mir irgendjemand anderes noch einzureden versucht, was ich lange schon nicht mehr leugnen kann: Es knistert ganz gewaltig zwischen uns und so gerne ich das Gefühl auch mit einer Direktfahrkarte in die Hölle schicken möchte, spüre ich auch eine Art besonderes Band, das mich unablässig näher zu ihm ziehen möchte.

Na toll, ist es zu spät, das als Halluzination abzutun oder kann ich einfach wieder auf diesen Zug aufspringen und hoffen, dass ich weiterhin mitfahren kann ohne reisekrank zu werden? Oder wie wäre es mit einer vorrübergehenden Hypersensibilität durch das Trauma einer Entführung, auf den ich diesen Anflug von Wahrheit schieben kann? Oh, ich merke schon. Meine sarkastische Art schlägt wieder zu, was etwa gleichbedeutend damit ist, dass ich mich auf der Flucht vor der nagenden Realität befinde und dabei in dem Irrtum lebe, dass humorvolle Bemerkungen mir helfen an Geschwindigkeit zuzulegen. Spoileralarm: Das tun sie nicht, aber wenigstens lassen sie mich für einen Moment denken, mein Gegner wäre noch Kilometer weit entfernt, obwohl er mir bereits in den Nacken atmet.

>>Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du derart verschlossen gegenüber anderen bist, dass es schwer ist dich richtig kennenzulernen?<<, flüstert Daimon sanft und auf seinen Lippen kann man schon wieder ein provokantes Lächeln erahnen. Es scheint so, als ob wir es beide nicht lange ohne die Mauern aushalten, die uns vor dem schlimmsten Schmerz bewahren. Und obwohl es hinter diesen schützenden Steinen warm und geborgen ist, frage ich mich doch, wie es ist die Hand auf die andere Seite zu strecken und das Ungewisse zu erfühlen. Einen Schritt auf die nahende Klippe zuzugehen, als sich immer weiter davon wegzubewegen, während der Abgrund dir unerbittlich nachsetzt. Plötzlich möchte ich etwas hundertprozentig Ehrliches von meinen Lippen entlassen, das nicht zuvor durch einen Filter gejagt wurde oder darauf getrimmt ist, nicht zu viel preiszugeben.

The chosen princessWhere stories live. Discover now