Ich gegen all die Hindernisse

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Nun sitze ich hier, bin aufgeregt. Ich werde gleich vor grossem Publikum stehen und meine Erfahrungen erzählen. Man muss sagen, ich konnte so etwas noch nie gut.

"So, und nun bitte ich Firas Synarkus ganz herzlich auf die Bühne.", ertönt die Stimme von Mia Richau. Nervös begebe ich mich auf die Bühne und räuspere mich kurz. Mia Richau bittet mich, loszulegen, sobald ich bereit bin.

"Guten Abend, vielen Dank, dass ich heute meine Geschichte erzählen darf und so vielleicht auch anderen, in einer ähnlichen Situation Mut machen kann, die Hoffnung nicht zu verlieren. Damals lebte ich mit meiner Familie in einem kleinen Haus in Hama, einer Stadt in Syrien. Ich war ca. fünf Jahre alt, als mein Vater eines Abends anders als sonst nach Hause kam. Er hat mit meiner Mutter aufgeregt diskutiert. Mir entging die Diskussion nicht, allerdings habe ich mir nichts weiter dabei gedacht. Ich ging schlafen und am nächsten Morgen hat mich meine Mutter früh geweckt. Sie sagte, dass böse Menschen hier seien und dass wir in die Schweiz gehen werden." Ich mache eine Pause, bevor ich weiterspreche.

"Ich verstand nicht genau, worum es geht, aber ich wusste, dass ich auf meine Eltern hören musste. Wir wurden von einem grossen Transporter abgeholt und in Richtung Schwarzes Meer gebracht. Im Transporter war es stickig und dunkel und keiner wusste genau, wie spät es war oder wie lange es noch dauern würde. Nach 4 Tagen hatten wir die Türkei erreicht und wurden mit einem Schlauchboot über das Schwarze Meer gebracht. Meine Geschwister durften zusammen mit meiner Mutter in das grösste der elf Boote steigen. Ich musste mit meinem Vater warten, bis sie losgefahren waren, denn uns liessen sie erst dann in ein anderes Boot einsteigen. Auf der Fahrt gerieten wir in einen Sturm, weshalb unser Boot kenterte. Nur ein Teil der Menschen, die auf dem Boot waren, schafften es auch zurück auf das Boot. Ich rief die ganze Zeit nach meinem Vater, bekam aber nie eine Antwort. Danach fing ich an zu weinen, da ich angsterfüllt war und keine Ahnung hatte, was nun passieren wird." Auch hier lege ich eine kurze Pause ein und versuche, nicht zu fest in Erinnerungen zu verfallen. Entsetztes Stöhnen und Raunen geht durch den Saal. Ich konzentriere mich wieder.

"Eine ältere Frau näherte sich und erzählte mir, dass alles gut kommen wird und dass wir das andere Ufer bald erreichen werden. So kam es auch, drei Nächte später strandeten wir und wurden erneut in düstere Transporter gesteckt. Ich war die ganze Zeit angespannt gewesen. Die Frau, die mir schon auf dem Boot gut zugeredet hat, sass neben mir und erklärte mir, dass wir uns in Rumänien befinden und über Ungarn und Österreich in die Schweiz fahren werden. 3 Wochen später kamen wir schliesslich in der Schweiz an und ich wurde nach verschiedenen Befragungen in ein Kinderheim in Graubünden gebracht. Die Heimleiter haben versucht, mir das Ankommen so angenehm wie möglich zu gestalten. Es war für mich nicht einfach, da ich weder wusste, was mit meiner Familie geschehen war, noch konnte ich Deutsch sprechen. Die anderen Kinder im Heim haben mich immer gehänselt, da sie mich nicht verstanden." Ich hole tief Luft und warte einen Augenblick, bis das Publikum wieder ruhiger wird.

"Nach einem halben Jahr im Heim wurde ich in den Kindergarten geschickt. Ich fand Freunde, wenn auch wenige. Damals wusste ich noch nicht, dass schon Kinder im Kindergartenalter wissen, wie man Kollegen ausnutzt. Nun ja, ich habe irgendwann von allen seltsame Blicke zugeworfen bekommen und wusste nicht weshalb. Es hat sich herausgestellt, dass meine "Freunde" falsche Gerüchte über mich verbreiteten. Danach war ich wieder allein und fühlte mich abermals wie ein Aussenseiter. Ein paar Jahre später fand ich einen Freund, der bis heute nicht von meiner Seite weicht. Jetzt fragt man sich, wieso die Heimleiter nichts dagegen unternommen haben. Ich war schon immer eine sehr schüchterne und verschlossene Person, was durch die Flucht und den Verlust meiner Familie nicht besser geworden ist. Die Leiter haben nichts mitbekommen, da ich mich nie dazu geäussert habe und die Kinder, die mich gemobbt haben, machten dies natürlich immer dann, wenn niemand zusah."

Ich gehe ein paar Schritte auf die Menschen im Publikum zu.

"Auf jeden Fall habe ich mit Ben einen Freund fürs Leben gefunden. Er hat mich immer verteidigt, wenn mich wieder jemand gemobbt hat und wir haben viel gemeinsam erlebt. Viele Jahre später, als wir in der 2. Oberstufe waren, hat mich die Direktorin der Schule in das Sekretariat gebeten. Sie teilte mir mit, dass ich den restlichen Tag vom Unterricht befreit sei und auf schnellstem Weg in das Heim soll. Das habe ich getan und eine der Betreuerinnen empfing mich. Mir wurde mitgeteilt, dass meine grosse Schwester Elenya ausfindig gemacht worden sei, aber auch, dass es noch nicht zu 100 Prozent sicher ist, ob es sich um die richtige Person handelt. Ich hatte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Hoffnung und freute mich sehr. Einen Monat später, mittlerweile war es sicher, dass es sich um meine Schwester handelte, rief sie im Heim an und fragte nach mir. Ich nahm den Hörer entgegen und war unglaublich aufgeregt. Wir haben ein Treffen vereinbart, um uns richtig aussprechen zu können. Zwei Tage später fiel ich ihr glücklich in die Arme, als ich sie im Park antraf. Sie sah meinem Erinnerungsbild von ihr noch immer ähnlich. Wir sprachen zuerst über die Flucht, die uns getrennt hat und ich habe erfahren, dass sich die Flucht bei ihr ziemlich genau so wie bei mir abgespielt hat. Meiner Mutter und meinem Bruder gelang es nicht mehr, genau wie meinem Vater, auf das Boot zurückzukommen. Sie sagte mir auch, dass sie mittlerweile geheiratet hat und Mutter von zwei wunderschönen Töchtern sei. Ich freute mich für sie, doch die grösste Überraschung war, als sie mir sagte, dass ihr Mann Lukas und sie gemeinsam beschlossen haben, mich bei ihnen aufzunehmen. Ich habe mich so gefreut und durfte noch am selben Tag anfangen zu packen. Als ich ein paar Tage später das Haus meiner Schwester betrat, wurde ich von allen herzlich in Empfang genommen und Lia und Svea, meine Nichten, haben mir alles gezeigt. In den kommenden Wochen fühlte ich mich das erste Mal, seitdem ich in die Schweiz flüchtete, richtig angekommen und glücklich und freute mich, dass ich von ihrer Familie so viel Halt bekommen habe. In der Zeit, in der ich bei ihnen wohnte, durfte ich zusehen, wie meine zwei Nichten einen kleinen Bruder bekamen und ich wurde Patenonkel. Das war etwas vom Besten was mir je passieren konnte." Ich bin erleichtert, dass ich das Ganze, ohne zu stottern, erzählen konnte.

"Ich hoffe, meine Geschichte konnte euch inspirieren und ermutigen, egal wie schlimm die Lage bei euch gerade ist, oder irgendwann vielleicht sein wird, nicht aufzugeben und die Hoffnung nicht zu verlieren." Ich bedanke mich beim Publikum und verlasse die Bühne. 

Ich gegen alle HindernisseWhere stories live. Discover now