Statt ein Wort zu sprechen, gehe ich einfach auf sie zu, nehme sie fest in den Arm. Mom und Dad tun es mir gleich, schließen uns beide in ihre warmen, Heimat spendenden Arme. Welch trauriges Bild unsere Familie abgeben muss; zwei Töchter, einst sprühend voller Leben und Visionen, elektrisiert von Worten und einem Kaleidoskop aus Fantasien. Jetzt sind ihre Flügel gebrochen, die eine zerbricht, die andere verliert. Die Seele unserer einstigen Familie wird kalt, Theos Haut ist eisig. So, so eisig.

Wo tut es weg, hatte ich sie gefragt. Ihr Blick antwortet mir; an jeder Stelle ihres Körpers, ihres Herzens, ihrer Seele. Alles tut weh.

Schiffe gehen nie wegen dem Wasser von außen um. Sondern von dem Wasser von innen. In dieser Nacht musste Theo einiges an Wasser schlucken. Sie musste untergehen, nur um eines Tages wieder auferstehen zu können. Und so halte ich sie fest, Mom und Dad halten uns beide fest – wir halten einander. In der Stille, in diesem Moment.

Einiges an Stunden vergeht, ohne dass etwas passiert. Theodosia ist wieder eingeschlafen und abgesehen davon, dass Mom und Dad sich beide auf Arbeit angemeldet, sowie mich um Sekretariat, haben, wagt niemand, etwas zu sagen. Jetzt, mitten in der Nacht kurz nach vier Uhr, ist Mom eingeschlafen, an Dads Schultern gelehnt.

»Wollen wir uns etwas zu essen kaufen, in der Mensa?«, fragt Silas, nachdem wir den gleichmäßigen Atemzügen meiner Mutter gelauscht haben. Da meine Beine eingeschlafen sind und ich Hunger habe – wie lange ist meine letzte Mahlzeit bloß her? – nicke ich und stehe auf, wobei das Plastik des Stuhls gefährlich wehleidig quietscht. Als würde es leiden.

In Krankenhäusern scheint alles zum Leiden geschaffen worden.

»Es geht dir nicht gut«, stellt Silas fest, nachdem wir schweigend den Flur entlang zur Mensa marschieren. Es geht schon – aber es zerstört mich. Für meine sechzehn Jahre haben meine Augen zu viel Leid gesehen, mein Herz hat zu viel Schmerz gespürt und mein Kopf wurde zu oft bestraft. Ich weiß nicht, wie lange ich dem Schmerz noch standhalten kann, wie lange ich stehen kann, ohne niedergestreckt zu werden.

Jetzt, das weiß ich, werde ich erst recht stark bleiben müssen. Für meine Familie. Für meine Schwester. Und ein kleines bisschen für mich.

Ich antworte Silas mit einem einfachen Blick, der je Bände spricht. Silas versteht sofort und greift nach meiner Hand, um sie zu drücken.

»Deine Hände sind eiskalt.«

Das Feuer ist erloschen.

In der Mensa angekommen, bleiben wir vor einem Essens-Automaten stehen. Da die Ausgabe natürlich geschlossen ist, weil es viel zu früh ist, bleibt uns nur diese Option.

»Hast du ein Problem damit, wenn wir uns einfach ganz viele Schokoriegel ziehen, statt eine vernünftige Mahlzeit zu uns zu nehmen?«

Eine rhetorische Frage, weil Süßigkeiten und alles an Zucker, was ich bekommen kann, gerade richtig ist. Vehement schüttle ich meinen Kopf, diese Antwort genügt. Silas strahlt übers ganze Gesicht, was das Blau seiner Augen gleich viel besser zur Geltung bringt. Mir ist nie wirklich aufgefallen, wie gut er aussieht, wenn er so lächelt. Wie es einen Teil meines Herzens mit erwärmt, mit erleuchtet. Den Teil, der sich schon zu lange in Dunkelheit wähnt.

Silas zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche und wirft eine Münze nach der anderen in den Automaten, bis wir ein ganzes Sammelsurium aus Schokoriegeln haben. Die letzte Münze wird vom Automaten geschluckt, ohne dass etwas herauskommt. Laut fluchend haut er mit der Faust gegen den Automaten – ohne, dass etwas passiert.

»Was ein Mist«, murrt er, »zwei Pfund hat mir dieses Teil geklaut.« Er wirft dem Automaten einen finsteren Blick zu, ehe er sich mir zuwendet. »Neun Schokoriegel müssen also reichen. Lust auf ein Abenteuer? Eine Wanderung im Krankenhaus-Park.«

LOVE LETTERS TO A STRANGERWhere stories live. Discover now