Kapitel 29

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Ragnar schlief am nächsten Morgen ausnahmsweise länger als ich.
Als ich blinzelnd die Augen aufschlug drehte ich mich instinktiv um und erwartete in seine blauen Augen zu sehen. Stattdessen waren sie geschlossen und er atmete ganz ruhig. Ich lächelte beim Anblick seiner friedlichen Gestalt. Einen Moment lang schloss ich ebenfalls noch einmal die Augen, genoss die Stille und die wärme des Bettes.
Als ich sie dass nächste Mal aufschlug war Ragnar ebenfalls bereits wach und drückte mir einen verschlafenen Kuss auf die Stirn. Skalli saß neben dem Bett auf dem Boden und grunzte leise zufrieden als ich ihm über den Kopf streichelte. Nach dem wir beide uns angezogen hatten begaben wir uns in die Halle um etwas zu essen was nicht aus Trockenfleisch und hartem Brot bestand.
Ragnar steuerte auf einen Platz an der Tafel zu, an dem bereits Lagertha und Rollo saßen. Wir ließen uns ihnen gegenüber nieder und kurz darauf brachte uns eine junge Frau zwei Teller mit geräuchertem Fisch und duftendem Brot und einem Krug Met mit zwei Bechern. Sogleich goss Ragnar uns ein und wir stießen an. Freudig nahm ich einen Schluck, verzog aber leicht das Gesicht. Den Met aus Kattegat hatte ich tausendmal besser in Erinnerung. Ragnar schien es allerdings nicht zu stören, denn er trank munter weiter während er mit Rollo plauderte. Nach dem Frühstück beschlossen Ragnar und ich uns den Marktplatz ansehen, bevor wir uns mit unseren verbliebenen Gefährten am Haus des Yarls treffen würden.
Als wir aus dem Gasthaus traten, strahlte uns eine kühle Winter-Sonne entgegen und zauberte mir ein Lächeln auf's Gesicht. "Zeigst du mir die Stadt?" Ragnar nahm meine Hand und drückte einen Kuss auf meine Fingerknöchel. Eine Art Hochgefühl erfüllte mich. Ich nickte.
Der Marktplatz war so voll wie ich ihn in Erinnerung hatte.
Bunte Stände waren dicht aneinander gedrängt und ließen Gassen für die staunenden Kunden frei. Von überall her hörte man die Rufe der Verkäufer und Verkäuferinnen die ihre Ware anpriesen, als hätten die Götter selbst sie gefertigt.
Die Luft war kalt und erfüllt von einem Geruchs-Gemisch aus verschiedenen Gerichten, Dreck und Schnee. Wir schlenderten zwischen den Ständen umher und blieb hier und da stehen um etwas zu bestaunen, während Skalli brav an meiner Seite blieb. Die Menschen ringsum erkannte ihn zum Glück nicht als Wolf, sonst hätten sie womöglich anders reagiert. Ein Gefühl der Wärme umfing mich als ich Ragnar einen Teil meiner Welt zeigen konnte und er sie bereitwillig bestaunte.
Leider eilte die Zeit in schnellen Schritten vorran und ehe ich es überhaupt bemerkte war es bereits Mittag.
Das Haus des Yarls war so schön wie ich es früher empfunden hatte. Die bunten Farben auf den Tierschnitzereien über der Tür waren mit der Zeit etwas verblasst, aber das änderte nichts an der Wirkung die sie auf mich hatten. Ragnar schien meinen verträumten Gesichtsausdruck zu bemerken.
"Gefallen sie dir so gut?" Auch er betrachtete sie näher. "Ja. Ich kann mir nur wenige Dinge vorstellen die schöner sind als geschnitztes Holz. Es ist so als würde das Holz ein zweites Leben bekommen. Eine neue Seele.
Deswegen mag ich es auch so gern dir beim Schnitzen zuzusehen, es ist so als...als würdest du etwas vollkommen neues schaffen. Fast so wie-", ich verstummte weil es mir peinlich war weiter zu sprechen. "Fast so wie was?", hakte er nach. "Fast so wie...Magie." Schüchtern blickte ich zu ihm hinauf und sah in seine Augen, die in diesem Augenblick so voller Güte waren.
"Ich habe etwas für dich." Er griff in eine kleine Tasche an seinem Gürtel und holte etwas heraus, hielt die Hand aber noch geschlossen. "Ich war mir nicht sicher wann ich es dir geben sollte, aber jetzt passt es irgendwie." Er öffnete meine Finger und legte einen kleinen Gegenstand hinein. Als ich ihn mir ansah konnte ich ein leises Keuchen nicht unterdrücken. In meiner vor Kälte geröteten Handfläche lag ein wunderschöner Wolf aus Holz. "Es ist eine Wölfin. Wir haben sie zusammen geschnitzt." Verständnisslos sah ich ihn an. "Als ich dir gezeigt habe wir man schnitzt.", erklärte er genauer und da fiel es mir wieder ein. Wie ich auf seinem Schoß gesesse habe und wie geduldig er mit mir gewesen war. "Du hast ihn zuende geschnitzt.", sagte ich. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er nickte und lächelte. Glücklich betrachtete ich die kleine Wölfin in meiner Hand. "Danke Ragnar. Sie ist wunderschön." In meinem Körper breitete sich ein Gefühl aus das ich so noch nie zuvor gefühlt hatte. Es war warm und ich fühlte mich unendlich geborgen. Ich wünschte mir dass dieser Moment ewig andauern könnte, aber offenbar erhörten die Götter mein Gebet nicht. Im nächsten Augenblick trat Thorald neben mich und musterte das Gebäude vor uns mit gerunzelter Stirn. "Das ist es also." Er klang verhalten und ich versuchte irgendein Gefühl aus seiner Stimme heraus zu hören. Scheiterte allerdings. "Hallo Thorald", Ragnar zog leicht spöttisch eine Augenbraue hoch. Der Angesprochene blickte ihn nur finster an. "Vielleicht sollten wir doch wieder gehen", sagte er leise. "Was?!" Geschockt drehte ich mich um. Er sah mich entschuldigend an. "Sie wird mich doch eh nicht nehmen, Kleine." Er wollte sich bereits umdrehen als ein lautes Pochen uns zusammen fahren ließ. Ragnar hatte angeklopft.

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