Linda

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1963



»Was möchtest du denn von Linda? Du kannst jede haben!«, Joey musterte mich mit einem unverständlichen Blick, als wär ich jemand anderes.


-


2015

Ich stehe am Rednerpult der großen hellen Kirche und überblicke den vollen Saal. Ich mustere Joey und Collin, einige Restliche die von meiner Schulklasse übrig geblieben waren, meine Kinder Matthew und Helena sowie ihre Kinder und Freunde von mir.


Ich stehe am Rednerpult und wische mir mit einem weißen alten Tuch die Schweißperlen von meinem Gesicht, befeuchte meine Lippen und ziehe meinen Mund etwas zusammen, starre nach rechts an das Bild mit dem schwarzen Streifen über der rechten Ecke des lächelnden Menschen.

Ich stehe am Rednerpult und mein Herz puckert. Die Minuten vergehen, die Menge murmelt und der Pfarrer möchte mich sanft zur Seite schieben, aber ich weiche keinen Millimeter, ich weiche keinen Schritt von dem Holztisch, der sich vor mir aufbaut. Bevor ich mit meiner entkräfteten Stimme einige Wörter sagen möchte, drehe ich mich noch einmal zum schwarzen Kasten hinter mir um, starre auf das Blumengesteck, drehe mich zurück und blicke hinauf zur Decke.


Ein letztes Mal schlucke ich und räuspere mich.


»Ich hätte wirklich jede haben können. Der coole Junge mit der Sonnenbrille und dem langen schwarzen Cardigan konnte wirklich jeden haben können«, ich sehe durch die Masse und blicke hinunter auf mein Blatt.


»Seht es nicht falsch, dass ich mit mir beginne, aber damit ihr Linda versteht, müsst ihr mich verstehen«, ein Raunen geht durch die Menge, und mir rollt eine Träne aus meinem linken Auge. Zitternd wische ich sie weg.  


Ich fasse mit dem nassen Finger das Papier an und die Tinte verwischt.


»Ich, ich habe Linda oft gesehen«, sage ich.


»Ich, ich habe Linda zu Erst nicht geliebt«, stottere ich und atme tief ein und aus.


»Linda hatte nicht den größten Vorbau, sie war nicht die Schönste und vielleicht auch nicht die Klügste. Doch Linda war Linda, Linda hatte Spaß, was ich immer wollte. Linda gab mir ihr Herz, ich hätte es jeden Moment in meiner Hand zerdrücken können oder mit den Jungs auf dem Hof damit spielen können. Aber Linda vertraute mir und damit verzauberte sie mich.


Jedes Mädchen was ich kannte, hatte die selben Vorstellungen. Sie hatten diesen hässlichen Ombré in ihren kaputten Haaren und trugen die Nike Air - Schuhe, Gott verdamm, wie hässlich und gleich sie alle waren. Linda schaffte es kein einziges Mal, wie sie sich auf verkleidete, dieses typische Mädchen zu sein.


Ja, Linda kam jeden Tag mit einer Perücke zur Schule. Linda schminkte sich manchmal wie ein Clown, Linda zog High - Heels und Sportschuhe gleichzeitig an. Linda machte das, was sie wollte und damit war Linda nicht eins dieser Mädchen, die nur ein Mädchen sein wollten. Linda hatte ihr Leben im Griff und ich schäme mich noch heute dafür zu ihr gesagt zu haben, dass sie verrückt sei.

Aber Linda vertraute mir.

Ich hatte Linda an meiner Seite, weil sie mir die erste Zeit nur Leid tat. Niemand wollte was mit ihr zu tun haben. Dem Mädchen mit den kaputten Haaren, dem Mädchen mit der blassen Haut und dem Mädchen mit dem Tumor im Kopf.


Nein.« Ich klopfe auf den Tisch.


»Niemand von uns hatte das Recht dazu. Denn wir waren Schuld daran, was sie mit sich machte. Nicht, dass sie sich schnitt. Nicht das sie sich die Haare ausriss, im Kampf mit sich selber oder sich zu Hause im Badezimmer einschloss, nein. Wir, wir waren der wahre Tumor in ihrem Kopf«, es kommt mir vor, als würde ich gegen Wände reden.


»Wir sehen aus, wie uns die Gesellschaft formt. Das ist das, was ich euch allen sagen möchte. Matthew und Helena, meine Kinder. Joey und Collin. Wir machen aus den Menschen das, was sie heute sind. Wir leben im Hier, doch beschreibt das Hier, nicht den Weg für das ‚Morgen'? Wird das Leben nicht durch andere Menschen bestimmt? Hätten wir nicht alle anders handeln können?

Gott, Linda war glücklich. Ich war es nicht. Ihr ward es nicht. Niemand war so glücklich wie Linda. Niemand von euch riss sich zu Hause die Haare aus, um glücklich zu sein. Niemand kämpfte für sein Glück und seine Zukunft, niemand machte sich diese Arbeit.


Ihr jämmerlichen Menschen, ihr, ihr die ihr vor mir sitzt. Ihr seid die wahren Opfer, nicht Linda. Nicht meine Frau, nicht meine Stütze. Nicht ihr, nicht ich war das Opfer von ihr. Wir waren die Opfer von uns selbst. Weil wir nicht wir sein konnten, wir konnten nicht sagen, was wir wollten. Wir konnten nicht tragen was wir wollten. Wir konnten nicht wir sein, ohne daran zu denken, was würden die anderen sagen? Wie würde ich die Liebe auf mich ziehen? Wir waren hemmungslose Opfer, die blind in die Eiserne Jungfrau liefen. Die Menschen und ihre Gedanken durchbohrten uns, den Selbstgedanken hatten wir aufgegeben. Wir waren zu scheu selbst zu denken. Wir waren zu ängstlich um ‚Wir' zu sein. 
Rückblickend kann ich sagen, dass ich gerne anders gewesen wäre, ich wäre gerne ein Unikat gewesen. Aber ich war es nicht, weil ich mich geschämt habe. Ich habe es nicht gemacht, weil niemand es gemacht hat. Ich hätte gerne Kleider getragen. Ich hätte gerne Freiheit genossen in unserer liberalen Welt, wo jeder jeder sein konnte. Und doch waren wir es nicht! Wir waren nicht die Freien, die von ihrer Freiheit gebraucht haben. Wir selber hatten den Wunsch uns zu befreien, befreien von der Freiheit? Das überlasse ich euch.


Linda war frei, Linda war glücklich. Und Linda war krank.



Linda war meine herzensgute Frau, die mir zwei wundervolle Kinder geschenkt hat. Sie hat mir Gedankengänge und ein Leben ermöglicht, welches für mich alleine zu schwierig war um es zu verstehen. Dafür danke ich ihr heute. Danke Linda, meine Frau, mein Leben und meine Liebe.«


Ich stehe vor dem Rednerpult, öffne wieder meine Augen und sage nur eine handvoll Worte.

»Wir alle sehen aus, wie uns die Gesellschaft formt.


Linda ist jetzt freier, als sie es jemals war.«

*

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Vielen Dank im Voraus. :-)

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