36. Sonnenuntergang

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Nana zuckte die Schultern.
Lotta nahm den letzten Schluck Wasser aus ihrer Flasche und verschluckte sich beinahe beim Kopfschütteln.
Juls und Mickey verneinten ebenfalls.
Cora setzte sich gerader hin.
,,Ich war es."
Erstaunt sahen sie alle an.
,,Du?", fragte Moni.
,,Was hattest du denn mit ihm zu tuen?", wollte auch Leon erstaunt wissen.

Cora seufzte. ,,Leider mehr, als mir lieb war."
Mit der rechten Hand, auf der noch vom letzten Schultag hektisch gekritzelte Zahlen standen, rieb sie sich über die Augen.
,,Kalle war bis zur siebten in meiner Klasse."
Stimmt, Cora ging auch mit Dean in eine Klasse. Genau wie Mickey.
,,Dann warst du daran beteiligt, dass er in die 11a versetzt wurde?", fragte ich nach, langsam die Geschichte von Dean zurück in mein Gedächtnis rufend.
Cora nickte.

,,Dann kanntest du auch das Mädchen, in das er verliebt war?", wollte Robin wissen.
Die Geschichte hatte ich eigentlich für mich behalten, aber Dean hatte sie auf Wunsch schulterzuckend nochmal erzählt, nur ohne eigene emotionale Einbringung.
Cora nickte wieder langsam.
,,Das war eine gefährliche Sache.
Kalle hatte das arme junge Mädchen zur einer Verabredung ins Restaurant eingeladen. Kennt ihr das auf dem Berg?"
Alle nickten und mir schwante Böses.
Das Restaurant ,,Am Berg", dessen Namen eine genau Definition der Lage war, hatte einen Außenbereich, der zwar umzäunt war, aber trotzdem steil nach unten verlief. Es war gar nicht weit von hier.
Cora erzählte weiter.
,,Nachdem das Mädchen ihn abgelehnt hatte, hat er sich persönlich beleidigt gefühlt und sie nah am Abgeund bedrängt.
Dann ist das arme kleine Mädchen mit seiner Hilfe über das Geländer gestürzt, doch der heldenhafte Dean mit dem sechsten Sinn kam genau rechtzeitig und rettete sie. Happy End."
,,Und da das arme kleine Mädchen ganz zufällig die Tochter vom Direx war, hat der gute Dean seitdem einen Nagel bei ihm im Brett", ergänzte Mickey lachend mit einem Seitenblick auf Cora, die auch grinste.
Ich verstand zwar nicht, warum, aber es schien sonst auch niemand außer den beiden zu verstehen.

Eine Stille entstand zwischen allen und ich blickte in die Runde.
Das hier waren die Leute, die mir wichtig waren. Das waren meine Freunde.

Wir alle genossen die langsame Dämmerung, bis Cora aufstand und sich imaginäre Krümel von der Hose klopfte.
,,Ich glaube, wir sollten los. Meine Eltern wollen morgen mit mir und meinem Bruder in einen Freizeitpark. Da muss ich fit sein."
Mickey lachte.
,,Sonst kannst du uns ja gar keine Bilder von unserem Direx schicken, wie ihm beim Achterbahnfahren übel wird."
,,Genau", kicherte Cora.

Ich brauchte einen Moment, bis ich es Klick machte.
,,DU bist die Tochter des Direktors?", wollte ich ungläubig wissen.
Alle anderen sah sie genauso überrascht und erwartungsvoll an.
Cora zwinkerte und hielt ihren Zeigefinger vor den Mund.
,,Psst, das bleibt unter uns. Das ist mein kleines Geheimnis, um nicht bevorzugt oder benachteiligt zu werden."
,,Dann war Kalle in dich verliebt?", fragte Lotta nach.
Cora nickte.
,,Aber Dean meinte, die Person, in die Kalle verliebt war, sähe mir ähnlich."
Cora sah mich nachdenklich an.
,,Bevor ich meine Haare abgeschnitten und gefärbt hab, bestimmt."

Ich betrachtete Coras schulterlange dunkelbraune Haare. Die Augenfarbe war vielleicht ähnlich. Und was hatte Dean gesagt? Ich war ein bisschen größer als das Mädchen.
Cora war wenige Zentimeter kleiner als ich.

Wir tauschten einen Blick und Cora lächelte, bevor sie sich umdrehte um Mickey und Juls beim Aufrollen der Decke zu helfen.
In diesem Moment wusste ich, dass auch ich einer der Gründe war, weshalb sie Kalle angezeigt hatte.
Sie wusste, dass ich ihrem alten Ich ähnlich sah.
Und sie wusste, genau wie ich, dass Kalle endlich eine Strafe verdient hatte.
Nicht aufgrund von Hass und Rache, sondern damit er über seine Aktionen nachdachte.
Hoffentlich.

Lotta öffnete einladend das Tor von der Wiese weg und lotste alle nach draußen.
Den leeren Picknickkorb hatte sie Katrin in die Hand gedrückt, die ihn gleich von Tyler, ihrem ,,Gentleman", abgenommen bekam.

Cora lief ganz vorne, während sie sich mit Lotta und Leni unterhielt.
Katrin war mit Tyler beschäftigt, da er sie vollredete, Leon und Frederik diskutierten mit Juls und Mickey über etwas und Moni und Robin liefen Hand in Hand vor mir und Jonathan, die ganz hinten gingen.
Es wurde dunkel um uns herum, doch die letzten Strahlen der Sonne schienen noch und die Umgebung war angenehm warm.

Ich sah nach links wo Jonathan, außnahmsweise mal schweigend lief.
Dann fasste ich einen Entschluss.
Im gleichen Moment, als die anderen um eine Kurve auf dem Waldweg bogen, fasste ich Jonathan bei der Hand und zog ihn weg.
Aus dem Augenwinkel sah ich noch, dass Robin es gesehen hatte, aber er nickte mir nur zu und drehte sich dann wieder zu Moni.

Jonathan stolperte erstaunt hinter mir her in die entgegengesetzte Richtung zu den anderen.
Ich lief ein paar hundert Meter, bog dann ab und zog ihn weiter.
Vor uns tauchte eine Lichtung auf und am Rand der Lichtung ein Gebäude, an dessen Vorderseite, die man von hier nicht sehen konnte, in Leuchtbuchstaben die Worte ,,Am Berg" standen.

Viele Meter entfernt von dem Haus, nahe an ihnen, wo sogar noch Bäume standen, verlief schon das Geländer aus dunkelblauen Rohren, die in der untergehenden Sonne rötlich schimmerten.
Nach einem ähnlichen Platz hatte ich gesucht und gehofft ihn zu finden.

Ich ließ Jonathans Hand erst los, als wir beide mit den Beinen über dem Abgrund baumelnd auf dem hüfthohen Zaun saßen.

Jonathan sah mich von der Seite an.
,,Was war das denn für eine Aktion?", fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen, aber er schien immerhin nicht abgeneigt zu sein.
Ich lächelte in den Sonnenuntergang, der im Tal zu sehen war und lange Schatten warf.
Nun war die Sonne fast verschwunden.

,,Ich wollte nur noch ein bisschen Zeit mit dir", lachte ich.
Jonathans Blick glitt wieder über mein Gesicht.
,,Du weißt gar nicht, wie wunderschön du bist, wenn du lachst. Das steht dir."
Ich wurde ein wenig rot.
,,Danke."

,,Wer wird denn da rot?", fragte Jonathan mit einem amüsanten Unterton.
Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen.
,,Weiß nicht, ich nicht."
Jonathan zog meine rechte Hand weg.
,,Ach echt?"

,,Ach, halt den Mund", kicherte ich und ein sonnig warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus.
,,Und was, wenn nicht? Was wenn ich weiterreden wi..."
Ich unterbrach ihn, indem ich ihn einfach küsste.

Jonathan sah mich danach mit einem verschmitzten Lächeln an.
,,Wenn das jetzt deine bevorzugte Art wird, mich am Reden zu hindern, sollte ich vielleicht mehr reden."
,,Vergiss es!"
Ich wollte ihn wieder küssen, doch Jonathan legte seine Hände um meine Handgelenke.
,,Nanana, du hattest schon die letzten zwei Küsse. Jetzt bin ich dran."
,,Mir doch egal", lachte ich.

,,Das ist aber nicht besonders erwachsen, Liz."
Ich versuchte meine Arme aus seinem Griff zu winden, aber Jonathan hatte viel Kraft.
,,Wer muss schon erwachsen sein."
,,Und das aus deinem Mund..."
Mein Mund verzog sich zu einem Grinsen.
,,Ich bin heute ja auch nicht Elizabeth."
Jonathan lächelte.
,,Stimmt, Liz. Aber was gibt dir denn das Recht mich einfach so hierherzuzerren und zu überwältigen?", wollte er gespielt ernst wissen.

Diesmal lag es an mir, spitzbübisch zu lächeln.
,,Ich dachte, ich bin deine Freundin."
Jonathan lachte.
,,Jetzt auf einmal?"
Ich grinste.
,,Tja."
Ein kurzes Schweigen entstand.

Die letzten Strahlen der Sonne kitzelten den Horizont und über uns gingen die Sterne und der Mond auf.
Jonathan und ich sahen uns an.
Seine blauen Augen glänzten wieder, als sähe er in mir etwas ganz Besonderes.
Er näherte sein Gesicht meinem und legte seine Stirn an meine.
,,Ich liebe dich", flüsterte er.
,,Kitschalarm", antwortete ich und spürte, wie sein Körper vibrierte, als er leise lachte.

Seine tiefen Augen öffneten sich wieder und er bewegte sich ein Stück weg von mir. Wir betrachteten uns gegenseitig kurz und ich erkannte im schwindenden Licht die blasse, winzige Narbe auf seiner Stirn, die von der damaligen Platzwunde stammte.

Dann neigten wir beide den Kopf nach vorne, und küssten uns genau gleichzeitig.

Über uns schien der Sternenhimmel und fast fühlte ich, wie mein fünfjähriges Ich irgendwo unten im Tal stand und nach oben schaute.

Fünf im KopfWhere stories live. Discover now