Prolog - Es war einmal ...

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Er schaut mich an und sieht nicht mich. Er sieht das, was er sehen will. Oder vielmehr, das, was ich will, dass er in mir sieht. Sein Blick streift flüchtig meine Brust und hinterlässt ein Kribbeln auf der Haut. Ich ignoriere ihn. Nippe am Weinglas und fahre mir unschuldig durch das schwarze Haar. Und als ich aus den Augenwinkeln sehe, wie er darauf reagiert, weiß ich, dass ich ihn habe.

Er gehört mir.

Vier Schritte. Drei. Zwei.

»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?« Hinter seinem Lächeln steckt eine andere Frage.

»Die Rechnung, bitte.« Nicht die Antwort, die er sich erhofft hat.

»Selbstverständlich.« Er lässt sich die Enttäuschung nicht anmerken. »Hat es Ihnen denn geschmeckt?«

»Es war ausgezeichnet.« Höflich nickend verschwindet er mit dem Teller in der Küche. Keine Nachfrage, ob ich ein Dessert möchte.

Das gibt Punkteabzug.

Ich schlage die Beine übereinander und hole meinen Geldbeutel aus der Tasche.

»Hier, bitte sehr.« Er streift meinen Oberarm, als er die Rechnung auf den Tisch legt.

»Stimmt so.« Ich gebe ihm die Scheine direkt in die Hand. Er sieht mich einen Augenblick zu lange an. Zu intensiv. Und da hat er die Antwort, auf die er die ganze Zeit gewartet hat.

»Vielen Dank. Möchten Sie noch einen Digestif aufs Haus?«

Ich sollte jetzt besser gehen.

»Gerne.« Meine Lippen bewegen sich wie von selbst und formen ein verführerisches Lächeln. Ich kann nichts dagegen tun. Er verschwindet und lässt mich mit meinem eingefrorenen Grinsen zurück. Als er wieder kommt, habe ich einen Plan.

»Möchten Sie lieber einen Kräuterschnaps oder einen Amaretto? Ich habe vergessen, zu fragen, was Ihnen schmeckt, deshalb habe ich einfach beides mitgebracht.«

So, so.

»Ich nehme den Amaretto«, sage ich und greife nach der braunen Flüssigkeit. »Wieso trinken Sie nicht mit mir zusammen, wenn Sie schon zwei Gläser mitgebracht haben?«

»Also eigentlich ist das während der Arbeitszeit verboten. Aber wenn Sie mich schon so nett fragen, mache ich bei Ihnen gerne mal eine Ausnahme.«

Das solltest du besser nicht tun.

»Na dann. Cheers.«

Der Amaretto läuft mir brennend den Rachen hinunter, hinterlässt aber einen schaurig-süßen Nachgeschmack auf meiner Zunge.

»Wahhh!« Er verzieht sein Gesicht und stellt das Schnapsglas auf dem Tisch ab. Dann hält er mir die Hand hin. »Ich bin übrigens Dino.«

Fragend ziehe ich eine Augenbraue nach oben. »Ach, sind wir jetzt etwa schon Freunde?«

»Freunde nicht unbedingt«, geht er auf meine Provokation ein. »Aber wir haben immerhin gerade Schnaps zusammen getrunken. Das verbindet!«

»So schnell geht das also«, sage ich grinsend und greife nach seiner Hand. »Ich bin Penelope.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Penelope.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Dino.«

Zwei Stunden später stehen wir auf dem kleinen Balkon eines Hotelzimmers und teilen uns eine Zigarette. Die Sonne ist untergegangen und ihre Abwesenheit hat die Stadt in ein klares, tiefes Blau getaucht. Irgendwo in der Ferne ist eine Autoalarmanlage zu hören. Ich blase den Rauch in die Luft und ziehe meinen Bademantel ein wenig enger.

»Woran denkst du gerade«, fragt Dino und nimmt mir die Zigarette aus der Hand.

»An zu Hause«, sage ich und seufze tief.

»Wo ist das?« Dino atmet einen Schwall Rauch aus.

»In Spanien. Madrid.« Jetzt nehme ich einen tiefen Zug. »Aber ich war schon sehr lange nicht mehr dort. Zehn Jahre nicht.«

»Warum?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sage ich und wende mich ein wenig ab. »Und keine schöne.« Dino schlingt seine Arme um meine Hüften und zieht mich näher an sich ran.

»Erzähl sie mir. Bitte!«, haucht er an mein Ohr. Sein Atem kribbelt an meinem Hals.

Ich winde mich aus seinem Griff, stütze die Ellenbogen auf dem Geländer ab und lasse den Kopf in meine Hände sinken, um die dunkle Stadtkulisse zu betrachten, die unter uns zu leuchten beginnt. »Ich habe meine Mutter nie kennengelernt«, sage ich, während er seine Arme von hinten um mich legt. »Sie ist bei meiner Geburt gestorben.«

»Das tut mir leid.«

»Mein Vater und meine Schwester haben mir immer die Schuld an ihrem Tod gegeben. Meine ganze Kindheit lang musste ich mir anhören, dass ich eine Mörderin bin.«

»Das ist grausam!«

»Mit achtzehn bin ich schließlich von zu Hause weggelaufen. Habe mich einfach in den Zug gesetzt und bin planlos umher gefahren. Und dann bin ich irgendwie hier in Deutschland gelandet. Und geblieben.«

»Du hast gar keinen spanischen Akzent.«

Ich drehe mich um und sehe ihm direkt in die Augen. Er streift mir eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Ein ziemlich tiefgründiges Gespräch dafür, dass wir uns erst seit ein paar Stunden kennen«, sagt er und ich merke, dass es ihm unangenehm ist. »Danke für deine Ehrlichkeit.«

»Na ja. Wenn das hier vorbei ist, werden wir uns nie wiedersehen. Wir teilen nur diesen einen Moment. Deshalb kann ich ehrlich sein. Weil ich für dich nur ein kurzer Zwischenstopp bin. Eine kleine Flucht vor dem Alltag. Und morgen werde ich wieder im Flugzeug sein und auf die andere Seite der Welt fliegen.«

»Machst du das öfters?«

»Natürlich, so ist das eben, wenn man Stewardess ist.«

»Das meine ich nicht.«

»Ich weiß«, sage ich grinsend und streichle ihm übers Kinn. »Und nein, ich reiße mir nicht regelmäßig einen heißen Kellner auf, wenn ich gerade in einer anderen Stadt bin.«

Er glaubt mir nicht, sagt aber nichts. Vielleicht interessiert es ihn auch nicht wirklich.

»Ich glaube, dein Handy klingelt.« Er deutet mit seinem Kopf nach drinnen. Mein Telefon liegt auf dem Bett und das Display leuchtet. Ich seufze, denn ich weiß ganz genau, wer am anderen Ende der Leitung ist.

»Wo bleibt dein Bericht, Luna? Ich warte schon seit Stunden drauf. Dir ist schon klar, dass ich dieses Projekt heute noch fertigmachen muss?« Brigittes Stimme ist scharf wie immer und duldet keine Widerrede.

»Sorry, Girlboss. Ich sitze schon dran. Du bekommst ihn spätestens in einer Stunde.« Dino sieht mich fragend an. Ich halte einen Finger vor meinen Mund. Er nickt.

»Eine Stunde? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Wie lange meinst du denn, soll ich heute noch im Büro bleiben? Du hast eine halbe Stunde, nicht mehr.« Und damit legt sie auf.

»Was ist los?«, fragt Dino und ich kann den kalten Rauch aus seinem Mund riechen.

»Ich muss gehen«, sage ich und schlüpfe dabei schon in mein dunkelrotes Kleid. »Sorry. Die Arbeit ruft.«

»Aber ... Was? Du hast doch gesagt, dein nächster Flug geht erst morgen früh?« Dino zieht seine Augenbrauen skeptisch nach oben, was ihm überhaupt nicht steht.

»Der Plan hat sich geändert. Ich fliege heute noch nach Moskau.« Ich schlüpfe in meine Schuhe und hebe dann Dinos Jacke vom Boden auf, um sie ihm in die Hand zu drücken. »Es war wirklich nett mit dir.« Ich ziehe ihn an mich ran, drücke ihm einen Kuss auf die Lippen, öffne die Hotelzimmertür und schiebe ihn hinaus. »Danke für den netten Zwischenstopp«, sage ich und schließe die Tür vor seinem unverschämt hübschen, durchaus verwirrten Gesicht. 

Lügenmärchenحيث تعيش القصص. اكتشف الآن