Chapter 2

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Harrys POV:

Nach meinem fluchtartigen Verlassen der Wohnung meiner Mutter fand ich mich in der U-Bahn wieder, auf dem Weg zu meiner eigenen. Mum hatte sich lange geweigert, mich ausziehen zu lassen, doch vor einigen Monaten, kurz nach meinem Geburtstag hatte sie nachgegeben. Aber wahrscheinlich nur, weil sie meine Art nicht mehr ertragen hatte. Ich hatte nämlich schlichtweg meine eigenen Mittel, um mit Langeweile fertig zu werden. Und so passierte es, dass ich stundenlang in der Küche stand und kochte, obwohl niemand zum Essen kam. Oder ich sang lauthals unter der Dusche, wenn sie eigentlich schon schlafen wollte. Oder ich redete mit mir selber und erzählte mir meine eigenen Witze. Oder ich ging ihr auf die Nerven, indem ich sie filmte und fotografierte, wo es nur ging. Ich hatte halt eigenartige Hobbies für einen 20 jährigen Jurastudenten. Aber vielleicht war das ja wiederum normal, weil ich blind war. Louis. Sein Name als auch seine Stimme klangen total warm und angenehm. Wahrscheinlich war er auch ein total netter Typ und ich tat ihm Unrecht mit meiner Sturheit. Aber ich wollte und brauchte keine Hilfe.

Ich kam prima zurecht, ehrlich. Ich lief jeden Tag zur Uni und danach in den Supermarkt um die Ecke oder in die Bücherei oder ins Plattengeschäft, wo sich die Verkäuferin immer mit mir über The 1975 unterhielt und mir manchmal eine CD billiger verkaufte, weil sie mich mochte. Und danach machte ich einen kleinen Umweg durch den Park, wo ich den schreienden Kindern und bellenden Hunden lauschte oder den Geruch der vielen verschiedenen Blumen einatmete, um schließlich zuhause anzukommen.. Dann kochte ich was (ich hatte einen Herd, der piepste, wenn er heiß geworden war und wenn der Inhalt im Topf kochte), hörte nebenbei Musik und ließ alle Eindrücke auf mich wirken. Abends las ich oft oder schrieb Songs oder telefonierte mit meiner Schwester oder lernte, je nachdem wonach mir war. Am Wochenende kam meine Putzfrau und machte alles sauber, wobei ich es mir nicht nehmen ließ, ihr unter die Arme zu greifen. Sie war schon etwas älter und brachte mir oft Kuchen, den sie für ihre Enkel gebacken hatte, mit, wofür ich mich revanchieren wollte. Nur Mum war der Ansicht, ich würde nicht mit meinem Alltag zurechtkommen, was völliger Blödsinn war. Louis würde ich leider enttäuschen müssen. Auch wenn er bestimmt nett war. Mum hätte ihn sonst nicht arrangiert. Ich fragte mich nur ehrlich, wozu ich ihn brauchte. Für meine Wohnung hatte ich Rosie, in der Stadt fand ich mich hervorragend zurecht, glücklicherweise hatte ich ja meinen Blindenstock immer bei mir, und auch in der Uni brauchte ich niemanden, der mein Händchen hielt. Meine Dozenten nahmen Rücksicht auf mich und halfen mir, wenn ich Schwierigkeiten hatte, was allerdings nicht oft vorkam. Anfangs war mein Laptop, auf dem ich in Blindenschrift schreiben konnte und es gleichzeitig bei Prüfungen übersetzen lassen konnte, regelmäßig abgestürzt oder ich hatte mich dauernd verlaufen, da ich die Wege noch nicht in meinem Kopf hatte. Um mich zu orientieren zählte ich nämlich Schritte. Von der Uni zum Supermarkt waren es 180. Vom Hörsaal bis zur Kantine 80. Von der Haustür zu meinem Kühlschrank 7. So hangelte ich mich durch den Alltag. Bis ich Louis eingewiesen hatte, wie mein Leben funktionierte, müsste er in Rente. Die Mühe lohnte sich nicht. Dennoch hatte ich eine Ahnung, dass Louis nicht zum Regeln meines Alltags da war, sondern aus einem anderen Grund, den ich aber ganz schnell in die hinterste Ecke meines Gehirns schob.

Zuhause angekommen machte ich mir eine Tasse Tee und setzte mich auf meinen Balkon in die Sonne, die angenehm mein Gesicht wärmte. Mein Handy vibrierte. Ich zog es aus meiner Hosentasche. „Anruf von Mum“, sagte eine melodische Frauenstimme. Seufzend nahm ich ab. „Schatz...“ Ihre Stimme klang bedrückt und enttäuscht. „Mum!“, warnte ich sie sofort. „Ich bin kein Baby. Bitte, ich brauch so jemanden wie Louis nicht. Glaub mir.“ Sie schnaufte schwer. „Ich hab ihm deine Nummer gegeben, damit er nochmal mit dir reden kann. Gib ihm eine Chance.“ In mir sträubte sich alles und Tränen stiegen in meine Augen. Warum konnte sie meine Entscheidung nicht akzeptieren? „Und was, wenn ich ihn nicht mag?“, fragte ich leicht trotzig. „Dann kannst du ihm meinetwegen absagen“, beruhigte sie mich leicht abgenervt. „Na gut. Ich gebe ihm die Chance. Auch wenn ich den Sinn in der ganzen Sache nicht sehe, wenn ich ehrlich bin.“ „Doch Harry, den siehst du, du bist nur zu stur, um ihn wahr zuhaben.“ Damit legte sie auf. Ein kleiner Stich bohrte sich in mein Herz und hinterließ einen Schmerz, der meine Seele zu erfrieren drohte. Ich biss mir auf die Lippe, bis ich Blut schmeckte, dann erhob ich mich und entschied spontan, duschen zu gehen, um mich von diesen unangenehmen Gedanken abzulenken. Das lauwarme Wasser wirkte tatsächlich wahre Wunder und danach ging es mir besser. Mit feuchten Haaren, die in meinem Nacken klebten, legte ich mich auf mein Bett und genoss die Stille um mich herum. Meine Ohren pfiffen nicht und mein Gehirn hielt endlich den Mund. Und von dieser Perspektive (hahahaha) sah die Sache mit Louis auch nicht mehr ganz so unangenehm aus wie zuvor.

Blind vor Liebe. Larry AU ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt