Prolog

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„Es wird keinen Tod mehr geben und auch keine Traurigkeit, keine Klage, keinen Schmerz. Was früher war, ist für immer vorbei. So sagt es die Offenbarung. Und wir- wir werden unseren langgehegten Traum endlich erfüllen", schallen die Worte des Hohepriesters durch die große Halle, in der Hunderte von vermummten Menschen leise wispernd ihrer Arbeit nachgehen. Dichte Schwaden zeremoniellen Weihrauchs aus den vielen Gebetsstätten machen die Luft in der Halle schwer. Das murmelnde Raunen der vielen Personen dringt nur gedämpft an die Ohren des Sektenführers, der über ihnen erhoben auf einem Podest am Altar steht. Doch aufmerksam geworden durch seine Worte verstummt die Menge, eine angespannte Stille zieht sich durch den Raum und dringt in jeden einzelnen Anwesenden ein, bis alle schweigend nach vorne starren- nur ab und zu dringt ein leises Husten durch die Stille. „Die Zeiten, in denen wir vergeblich versucht haben, zu erreichen, was wir wollen, die Zeiten des Misserfolges- diese Zeiten sind jetzt vorbei. Unser hochangesehener Rat hatte sich zurückgezogen, um sich das weitere Vorgehen zu planen, wie ihr wisst. Und nun stehe ich hier, um euch zu sagen, dass jetzt eine bessere Ära für uns alle anbrechen wird! Nie wieder werden wir unter unseren Mitmenschen leiden müssen, nie wieder wird man uns mit Ihnen vergleichen oder gar gleichstellen! Bald werden wir alles haben, was wir uns je gewünscht haben. Wir werden uns nicht mehr sagen lassen, dass wir Versager sind." Gedämpfte Schritte bewegen sich vom Altar weg, der Hohepriester bahnt sich seinen Weg durch die dichten Nebelschwaden im Raum und der beißende Rauch lässt seine Augen tränen. Seine Hände ziehen an dünnen Kordeln und berühren die nackten Körper der Menschen unter den schwarzen Umhängen, während er sich durch den Raum bewegt, ein kaum hörbares Wispern dringt aus dem Mund des spirituellen Führers. „Wir müssen uns nicht mehr verstecken. Unsere Leben haben endlich einen Sinn. Ihr - und ich - werdet alles haben, was ihr immer wolltet." Die Finger seiner rechten Hand streichen über die entblößten Brüste einer jungen Frau, liebkosen sie. Sein eindringender Blick zieht sie durch das Dunkel in seinen Bann. „Ihr müsst nicht mehr denen gehorsam sein, die glauben, über euch stehen. Du, Elena, wirst deinem grausamen Mann nicht mehr untertan sein müssen... du wirst frei sein! Das ist es doch, was du willst?" Ein nahezu nicht sichtbares Nicken bestätigt die Worte des Priesters, als er seine Schritte weiterlenkt. „Und auch du, Jonathan, wirst endlich frei sein." Geschickt streifen seine Hände den Mantel des Mannes ab und präsentieren seinen Körper der Gemeinschaft. „Und ihr alle"- seine Stimme hebt sich- „ihr alle werdet frei sein, zu sein, wer ihr wollt, und zu tun, was ihr wollt. Wie ihr eure Kleidung abstreift, so werdet ihr die Lasten dieser Welt abstreifen! Wir suchen nach einer besseren Welt, nach einer Welt, in der wir sein können, wer wir wollen. Eine Welt ohne Furcht, ohne Trauer, ohne Leid. Und heute Nacht werden wir sie finden!" Die Menschen schlagen ihre schwarzen Kapuzen auf ihre Schultern zurück und sinken zu Boden, sie flüstern durcheinander, wiederholen ihre Mantren und wispern Lobeshymnen auf den Hohepriester. Immer lauter wird dieses Getuschel, die Betenden beginnen auf den Boden zu schlagen. Durch die Ritzen der allzeit verschlossenen Türen dringt dieser Lärm der Hoffnung nach draußen, die Kerzen, die wie winzige Funken in der Dunkelheit sind, flackern, selbst der Marmorboden beginnt unter den Schlägen zu erzittern. „Wir werden heute Nacht ein Opfer bringen! Die Offenbarung wird sich erfüllen!" Ein heiseres Lachen begleitet die Worte des Mannes, der sich zu Boden fallen lässt und seinen Gott anbetet, während der Sturm der Begeisterung alle um ihn herum mit sich reißt.

Die Kinder des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt