5. Otrera verteilt Flyer - moment mal, die waren ja noch nicht erfunden

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Ich wachte mit einem Stöhnen auf.

Definitiv Muskelkater, denn gestern Abend hatte ich noch bis tief in die Nacht mit den Säbeln trainiert. Ich wusste zwar nicht genau, wie es ging, aber das einfach-mal-auf-die-armen-Bäume-einhacken hatte einigermaßen funktioniert.

"Leo? Alles okay? Die Betten waren voll gemütlich." Sofia beugte sich besorgt über mich, und ihre sonst so glatten Haare hingen ihr verstrubbelt im Gesicht. Als unsere Augen sich trafen, beschleunigte sich mein Herzschlag ungewollt.

"Wo ist Otrera?" fragte ich, und versuchte dabei meinen Atem zu beruhigen. Erinnerungsstücke wirbelten durch meinen Kopf, und erschwerten es mir, die Gedanken zu ordnen. Das war wohl eine der Nebenwirkungen, wenn man durch die Zeit reiste. Allgegenwärtige Kopfschmerzen, dazu ein paar Gedächtnislücken.

Was mich allerdings am meisten störte war, dass ich nicht wusste, bis wann ich hier bleiben würde. Wenn Artemis auf einmal auftauchen, "Deine Zeit ist um." dröhnen und mich in meine eigene Zeit zurückbefördern würde...

Daran wollte ich gar nicht denken.

 Plötzlich kam Otrera auf mich zugestürmt. "Leo. Die Lage ist ernst. Wir müssen dringend Frauen für die Armee finden. Wir haben kaum noch Zeit."

"Armee?" echote ich verschlafen, und blinzelte.

"Ja, Armee. Du hast dich nicht verhört. Wir geben Frauen ihre angemessenen Rechte zurück." erwiderte Otrera. Angemessen? Das steht doch nur noch in Verträgen heutzutage. "Deshalb suchen wir jetzt Frauen für die Armee." fuhr sie fort. "Alle können beitreten. Uns wird keiner stoppen können. Wir werden unbesiegbar!"

"Ähm...Okay. Ich meine, natürlich." erwiderte ich verwirrt. Langsam begann mein Gehirn sich in Bewegung zu setzen. So war es immer am Morgen - Ich registrierte Sachen nur. Es dauerte eine Weile, bis ich sie auch kapierte.

Sofia schnappte sich Pfeil und Bogen, die in Massen an der Höhlenwand angelehnt waren, und trat aus der Efeuwand. Helles Sonnenlicht fiel durch die Zweige der Bäume und blendete mich für einen Moment. Als ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte, sah ich gerade noch, wie Sofia den Bogen spannte, und auf eine durchlöcherte Zielscheibe zielte.

Ich wollte schon etwas sagen, als der erste Pfeil ins schwarze traf. Dann der nächste. Sofia schoss hintereinander acht Pfeile ab, die allesamt ins schwarze trafen. Mir stockte der Atem, und mein verwirrter Blick wanderte zu Otrera.

Diese schien sich vor Lachen kaum halten zu können, als sie mein Gesicht sah. "Na, Leo." meinte sie mit verschmitztem Grinsen. "Sofia ist anscheinend ein Naturtalent im Bogenschießen. Das ist zwar auch ziemlich neu für mich, aber...Jetzt haben wir wohl eine Bogenschützin für die Armee."

Ich war immer noch sprachlos.

"Leo?" Sofia lächelte, als sie mein verdutztes Gesicht sah. "Na ja - ich mochte Artemis schon immer. Bogenschießen ist wirklich fabelhaft, findest du nicht?" Ihr Lächeln wirkte absolut friedlich, doch ich wusste ja, dass sie ziemlich gefährlich sein konnte.

"Ich bin eher der Nahkampf-Typ, glaube ich." erwiderte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Grinsend beobachtete Otrera uns. "Na dann, lass uns Frauen finden." Das würde ein Höllenspaß werden.

Da es hier kein Internet gab, konnte man nicht einfach eine Anzeige ~Alle Frauen im Wald versammeln, lass uns unsere Recht zurückholen (Und alle Männer niedermetzeln...Äh, nur Spaß)~ reinstellen. Papier gab es nur für die gelehrten, Philosophen und reichen Männer.

Wir hatten uns Kapuzenmäntel angezogen, und die Kapuzen so weit wie möglich ins Gesicht gezogen, um ja nicht erkannt zu werden. Keiner schenkte uns seine Aufmerksamkeit, was ich tatsächlich etwas merkwürdig fand. Schließlich waren wir mittlerweile wahrscheinlich als: "Drei Frauen, die vollkommen verrückt geworden sind" bekannt.

Otrera führte uns zu einer kleinen, schäbigen Hütte, und öffnete behutsam die schief hängende Tür. Vorsichtig traten Sofia und ich hinter ihr ein, und entdeckten zwei junge Mädchen, nach dem Aussehen  zu urteilen Zwillinge.

Als sie uns sahen, zuckten beide erschrocken zusammen. "Pst." flüsterte Otrera, die wohl bereits Bekanntschaft mit den beiden gemacht hatte. "Wir holen euch hier raus." Mit weit aufgerissenen Augen starrten die Mädchen uns an. Endlich ergriff eine von ihnen das Wort. "Das geht nicht. Er würde - "

Er. Schon wieder ein bescheuerter Typ. So langsam begann ich wirklich eine Wut auf die Männer hier aufzubauen. Sofia legte den Kopf schräg. "Schleicht nachts aus dem Haus. Folgt dem Wegweiser. In eurem Fall könnt ihr bei uns im Versteck bleiben."

Otrera nickte zustimmend. "Heute Nacht. Tief im Wald." Die selbe Ansage machten wir bei fast allen Häusern im Dorf. In vielen Fällen waren die Frauen, beziehungsweise auch Mädchen, ziemlich schreckhaft und misstrauisch.

Aber Otrera und Sofia hatten eine starke Überzeugungskraft. Ich versuchte ihnen so viel wie möglich zu helfen, stand jedoch ziemlich im Weg. Auf dem Weg zurück in unser Versteck legten wir kleine grüne Blätter, die wir in der Höhle gefunden hatten. Das erinnerte mich wage an Hänsel und Gretel, bloß dass nicht WIR, sondern andere in das Versteck finden mussten.

Glücklicherweise konnten die Blätter auch nicht wegfliegen. Zum einen weil der Boden so matschig war, zum anderen weil kaum Wind wehte. Hoffentlich würden die Männer dieser Fährte nicht folgen. 

"Leo?" riss Otrera mich aus den Gedanken. In ihrem Augen spiegelten sich die Wolken am Himmel, doch das mordlustige, aggressive Glitzern ließ sich dadurch nicht mildern. "Kannst du die Nahkampfgruppe trainieren?"

Ich blinzelte verwirrt. Nahkampfgruppe?

Sofia fing an zu erklären. "Wir wollen, dass alle Frauen kämpfen lernen, deswegen teilen wir uns in drei Gruppen auf. Jede Gruppe kommt jede Nacht zu einem anderen Kurs, immer abwechselnd. Otrera erstellt Waffen, ich übe Bogenschießen mit den Frauen, und du trainierst sie in Nahkampf."

Ich hatte nur die Hälfte davon kapiert, was sie mir erklärt hatte. Das lag natürlich nicht daran, dass ich sie die ganze Zeit angestarrt hatte. Natürlich nicht. Unsere Augen trafen sich, und ich wäre vor Scham beinahe im Boden versunken. Selbstverständlich hatte sie mitbekommen, dass ich sie angestarrt hatte.

Ich räusperte mich. "Verstanden." Otrera warf uns ein flüchtiges Lächeln zu. "Dann ist ja alles geklärt, heute Abend werden wir anfangen. Leo, du kannst ihnen ja - wie heißt das noch mal?"

"Säbelform?"

"Genau. Wenn du ihnen das beibringen könntest..."

Ich lächelte. "Klar, das ist machbar."

Das war der Anfang von uns.


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