Kapitel 7

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Am nächsten Abend saß Martin betrübt am Esstisch der kleinen Wohnung und starrte vor sich hin. Vielleicht musste er wirklich akzeptieren, dass er nie erfahren würde, was mit Wilhelm geschehen war. Ändern konnte er die Vergangenheit schließlich ohnehin nicht, so sehr er es sich auch wünschte. Und dennoch wusste Martin, dass er Wilhelm nie vergessen könnte. Er hatte ihn geliebt, mehr als alles andere damals. Wilhelms haselnussbraune Augen hatten sich in Martins Gedächtnis eingebrannt. Die Art und Weise, wie sie zu strahlen begonnen hatten, jedes Mal, wenn sie alleine gewesen waren... Doch das alles war Vergangenheit. Unerreichbar weit weg.

Martin wünschte sich die Zeit zurück drehen zu können, wünschte er wäre an jenem Tag nicht nach Wilhelm gucken gegangen. Dann säßen sie jetzt vielleicht gemeinsam in seiner Wohnung, nach einer schier endlosen Schicht in der Fabrik, vorausgesetzt natürlich sie hätten beide den Krieg und die Front überlebt.

Unter diesen Umständen aber hätte Martin Otto niemals kennengelernt. Ein Leben ohne Otto, ohne seine sanften Berührungen, ohne seine Sprüche und ohne seine Lebensfreude. Diese Vorstellung tat weh.

Haselnussbraune Augen oder unfassbar strahlend Blaue. Wilhelm oder Otto.

Martin vergrub das Gesicht in seinen Händen. Was wäre sein Leben ohne Otto? Ohne sein sonniges Lächeln? Martin war sich sicher, dass sein Leben ohne seinen Lebensgefährten sehr viel dunkler und freudloser wäre. Otto war das Kostbarste, was Martin hatte und er würde alles für diesen Menschen geben. Wirklich alles. Er wollte Otto nie wieder gehen lassen, wollte den Rest seines Lebens mit ihm verbringen und dennoch gab es eine Region in seinem Herzen, zu der Otto wohl niemals Zugang bekommen würde. Wilhelm würde für immer ein Teil von Martin sein, auch wenn die Ungewissheit so unglaublich schmerzhaft war...

Ein Klopfen an der Wohnungstür riss Martin aus seinen Gedanken. Stirnrunzelnd sah er auf. Besuch erwartete er nicht und Otto war vorhin erst losgezogen, um etwas zu Essen zu ergattern, was bei der derzeitigen Versorgungslage eine zeitaufwändige Angelegenheit war. Außerdem hatte Otto seinen Schlüssel dabei...

Seufzend stand Martin auf und ging zur Tür, um sie zu öffnen.

Überrascht blickte er wenige Sekunden später in Kirchhoffs schmales Gesicht.

„Entschuldige die Störung... Kann ich kurz reinkommen?", fragte Letzterer ein wenig verlegen, bevor er sich unruhig im Gang umsah.

„Äh, ja." Irritiert ließ Martin Kirchhoff eintreten und schloss die Tür hinter ihnen.

Martin konnte sich keinen Reim darauf machen, was Heims Assistent von ihm wollte.

„Heim schickt mich. Die Lieferung mit der Borsalbe ist doch heute schon angekommen.", erklärte Kirchhoff zögerlich und reichte Martin eine Dose.

„Danke!" Überrascht nahm der Pfleger die Dose entgegen. Noch nie hatte Heim ihm irgendetwas vorbeibringen lassen. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um etwas handelte, das definitiv noch hätte warten können.

Einen Augenblick lang herrschte Stille, doch das was Kirchhoff dann sagte, ließ Martin erstarren. Es waren nur zwei Worte. Zwei Worte, die für alle anderen bedeutungslos gewesen wären. Der Name einer Berliner Fabrik, gemeinsam mit einer Straße, die nicht sehr weit davon entfernt lag. Doch für Martin hatte diese Wortkombination eine Bedeutung. Wilhelm.

„Was... wie... woher?" Mehr brachte Martin nicht über seine Lippen.

Kurz schwieg Kirchhoff, hatte den Kopf gesenkt und das Gesicht verzogen.

„Ich habe ihn kennengelernt... in der größten Hölle dieser Welt." Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

Martins Atem beschleunigte sich unkontrolliert. Dieser Mann kannte Wilhelm! Hoffnung und schreckliche Furcht machten sich in Martin breit. Dieser Mann wusste vermutlich, was mit Wilhelm passiert war!

Catch up with the past, before it catches up with youWhere stories live. Discover now