Kapitel 7

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„Hey Jason, wenn Grace kommt, muss ich mal kurz mit in den Pausenraum gehen."

„Okay, kein Thema."

Sie mochte es wirklich mit ihm zusammenzuarbeiten. Da herrschte so ein Grundvertrauen zwischen ihnen. Er fragte nicht nach, was sie jetzt mit Grace zu besprechen hatte und er schrieb ihr nicht vor, was sie wann zu machen hatte. Die anderen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen waren sehr betroffen, als Roxanne von Carols Zusammenbruch berichtet hatte. Allesamt waren sie bereit, den Laden weiterhin mit am Laufen zu halten. Für Roxanne änderte sich nur, dass sie selbst jetzt auch an Weihnachten im Einsatz sein würde. In ihrer Freizeit ging sie dann jeden Tag vor ihrer Schicht kurz bei Carol vorbei. Ihre Mutter fand ihre ganzen zusätzlichen Verpflichtungen, insbesondere das verplante Weihnachtsfest, gar nicht witzig, aber war gleichzeitig beeindruckt, dass ihrer Tochter so viel Vertrauen geschenkt wurde, dass sie die Leitung der Bar mit übernahm.

„Du verstehst dich gut mit Grace, oder?", hakte Jason plötzlich doch noch nach.

„Ja, wieso?"

„Sie hat bisher nie kleine Scherze mit einer Kellnerin zwischen den Songs gemacht."

Roxanne bekam dieses beklemmende Gefühl, wenn sie Angst bekam, dass jemand dahinter kommen könnte, dass sie Grace anhimmelte. Wenn das jetzt die Runde machte, war sie ihre Anerkennung im Team schneller los als sie sie gewonnen hatte.

„Da kommt sie übrigens schon."

Grace betrat den Gastraum. In der Hand trug sie einen Kleidersack.

„Hey, was hast du da? Musstest du das extra neu kaufen?"

„Nein. Das ist ein anderes, das ich noch zuhause hatte."

Roxanne nahm es ihr ab und öffnete den Reißverschluss. Zum Vorschein kam ein schwarzes Kleid mit kleinen weißen Blumen und einem Rüschenkragen.

Roxanne räusperte sich.

„Oh Gott, wenn du schon so guckst, dann wird das ein schrecklicher Auftritt. Ich kann doch nicht ernsthaft in diesem Fummel auftreten, in dem ich aussehe, als komme ich direkt von einer Beerdigung aus den 80ern."

Roxanne schloss den Reißverschluss wieder. „Komm mal mit." Sie führte den Weg in den Pausenraum an.

„Mein Kleid!", rief Grace aus, als sie den Pausenraum betrat. An der gewohnten Stelle hing der kirschrote Traum. „Aber wie...?" Sie spurtete hin und besah es sich genauer. Das Kleid war an der Vorderfront komplett gerissen gewesen. Jetzt war dort ein Paillettenband angebracht. Es war zwar aus dem pragmatischen Grund dort, um die Naht zu kaschieren, machte aber durchaus den Eindruck, als wäre es von Anfang an am Kleid gewesen.

„Wahnsinn! Das sieht klasse aus! Hast du das irgendwo in Auftrag gegeben?"

Roxanne schüttelte den Kopf. „Ich ... na ja, ... ich habe das selbst gemacht. Ich habe eine Nähmaschine zuhause. Bei meiner Figur muss man öfter mal Kleidung anpassen. Es ist nicht so einfach, Sachen zu finden, die genau richtig passen."

„Das Kleid sieht besser aus als vorher!", quietschte Grace vergnügt. „Sowas hat noch nie jemand für mich getan."

Sie ging zu Roxanne und umarmte sie.

Roxanne fühlte sich kribbelig, als sie den zarten Körper an ihrem spürte. Es dauerte nicht lange, bis sie feststellte, dass das Kribbeln eigentlich ihr Puls war, der wie wild raste.

„Danke für die Überraschung", hauchte Grace und platzierte einen Kuss auf Roxannes Wange.

Roxanne war fix und alle und wusste gar nicht, welchem Gefühl sie als erstes nachspüren sollte, den Lippen auf ihrer Wange, die länger dort blieben als Roxanne vermutet hätte oder den Händen, die immer noch um ihren Körper geschlungen waren.

Entgegen ihrem Gefühl schob sie Grace sanft von sich weg. „Du solltest das nicht tun", flüsterte sie und erschrak selbst darüber, dass sie das gesagt hatte. Jetzt war alles aus. Jetzt wusste Grace, dass Roxanne Gefühle für sie hatte, die eine berufliche Beziehung überstiegen. Womöglich würde sie sich jetzt angewidert von ihr abwenden.

Grace stockte kurz und suchte Roxannes Blick, die es vermied, Grace in die Augen zu sehen. „Warum nicht? Erklär's mir", bat Grace, aber rückte klammheimlich wieder näher an Roxanne heran.

„Hör mal, ich muss wieder in den Gastraum. Das scheint da voller zu werden." Roxanne wand sich aus dem engen Körperkontakt. „Und du solltest das Kleid mal probieren. Nur weil ich es wieder zusammengesetzt habe, heißt es ja nicht, dass es dir passt."

Roxanne flüchtete aus dem Raum, noch bevor Grace reagieren konnte.

Als sie in den Gastraum kam, baute sie sofort Blickkontakt mit Jason auf. Sie verstand den Ausdruck in seinen Augen sofort: es war zu tun. Sie wurde gebraucht. Das hatte sie schnell gelernt. In der Gastronomie musste man seine Augen überall haben. Und zwar vorrangig bei den Gästen und nicht bei den Kolleginnen. Sie schaute nach ihren Tischen und machte sich an die Arbeit.

Kurz darauf erklang weihnachtliche Instrumentalmusik, was die Vorankündigung für Graces Auftritt war. Die Stammgäste wussten bereits bescheid und sahen interessiert in Richtung der Tür, aus der sie immer kam.

„Ladies and gentlemen", hörte man plötzlich ihre Stimme durchs Mikro, obwohl man sie noch nicht sah. „Ich freue mich, sie gleich ein wenig mit Musik zu unterhalten. Gleich als erstes darf ich eine Programmänderung ankündigen. Der erste Song ist für Roxy, die dafür verantwortlich ist, dass die Türen auch heute wieder geöffnet sind, auch nachdem unsere Chefin ausgefallen ist."

Dann erklangen die ersten Akkorde von „Rudolph, the red-nosed reindeer". Grace trat aus der Tür und Roxanne verschlug es fast den Atem. Das Kleid schmiegte sich fast noch besser als vorher an ihren Körper an und betonte ihre Rundungen.

Grace sang den Song und Roxanne fiel es wieder zunehmend schwer, ihren Job zu erledigen. Dafür suchte Grace viel zu viel Augenkontakt mit ihr. Und Roxannes Gedanken waren in einem Kettenkarussell gefangen. Hatte sie den Song gewählt, um sich über sie lustig zu machen, weil es ein Kinderlied war? Oder bedeutete die Geste doch mehr?

Dann kam Grace zum Refrain. Sie wandelte den Text leicht ab und sang überraschend: „Roxy with your heart so bright – won't you guide my sleigh tonight?"

Roxanne musste lächeln, auch wenn sich ihre Unsicherheit, was Grace anging, nicht völlig in Luft aufgelöst hatte.

Grace kam zum Ende des Songs. Langsam aber sichtbar näherte sie sich Roxanne an und blieb neben ihr stehen, als sie das Lied beendete.

Das Publikum applaudierte. Grace lächelte in die Menge und deutete eine Verbeugung an. Danach beugte sie sich verstohlen zu Roxanne und sagte ihr leise ins Ohr: „Hast du einen Abend frei? Gehst du dann mal mit mir essen?"

Roxanne lächelte und konnte nicht anders, als sofort Ja zu sagen.

„Und nur, dass du keinen falschen Eindruck bekommst: das soll ein Date sein."

„Aber nur, wenn du das Kleid trägst."

Grace grinste vielsagend und drehte sich wieder dem Publikum zu, um den nächsten Song anzustimmen.

Sie hinterließ eine verwirrte, aber glückliche Roxanne, die an diesem Abend noch einige Getränkebestellungen durcheinanderbrachte.

With your heart so brightWhere stories live. Discover now