01 - Anfänge

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Das Schicksal nimmt nichts, was es nicht schon gegeben hat

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Das Schicksal nimmt nichts, was es nicht schon gegeben hat.
- Seneca -

UNTER DEN SOHLEN MEINER SCHUHE knirscht der Schnee, das einzige Geräusch, welches zu hören ist, weit und breit

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UNTER DEN SOHLEN MEINER SCHUHE knirscht der Schnee, das einzige Geräusch, welches zu hören ist, weit und breit. Wenn der Tag ein Geschenk ist, ist die Nacht ein Dieb. Der Tag ist hell, die Nacht finster. Und jetzt, am frühen Morgen an der Grenze zwischen Tag und Nacht, befinde ich mich in der Grauzone. Mit dem weißen Schneegestöber hat sich auch eine fast schon unheimliche Stille auf Brighton gelegt, fast wie eine wärmende Jacke im Winter. Aber nur fast. Denn für mich ist es eine Zwangsjacke.

Die Stille; mein Rückzugsort und gleichzeitig mein Gefängnis. Durch meine Kopfhörer dröhnt Musik, die rauen Stimmen und Bässe beruhigen mich, berühren mich auf eine Weise, wie es nur die Musik es vermag. Wie Regen donnern die Bässe auf mich hernieder, hinterlassen überall Zerstörung in den Trümmern meines Kopfes.

Einer der Kopfhörer rutscht aus meinem Ohr und ich seufze leise. Der Stöpsel rutscht unter meinen Schal und ich möchte ihn wieder rausholen, was damit endet, dass ich einen totalen Kabelsalat habe. Frustriert bleibe ich stehen, um mich besser konzentrieren zu können. Ungeduldig nestle ich an meiner Jacke rum, um den Stöpsel wieder zu fassen zu kriegen. Wenn es nach mir ginge, hätte ich schon längst kabellose Kopfhörer, dazu noch schalldichte, damit nicht jeder im Umkreis von drei Metern sofort hört, was für Musik ich gerade angeschaltet habe. Meine innere Angst, jedes Mal, wenn ich Leuten zu nahe komme, regle ich die Lautstärke wie in einem eingeübten Automatismus herunter.

Aber das Geld ist knapp, und auch wenn wir nicht so arm sind, um ums blanke Überleben kämpfen; besonders weit sind wir davon auch nicht mehr entfernt. Dad hatte schon immer eine körperliche Einschränkung, nach einem Arbeitsunfall, der seinen Rücken stark beschädigt hat. Durch das Alter und den wachsenden Stress ist die Belastung in kurzer Zeit immens gestiegen, weswegen er nur noch kleine Teilzeitjobs ausführt und jetzt versucht, sich eine neue Ausbildung zu finanzieren, was zu einem weiteren Kredit führt, der bald abgezahlt werden muss. Und auch wenn ich es nicht zugeben möchte, weiß ich, dass ich mit Schuld an seinem Stress habe.

Meine Stille.

Mein Schweigen.

Ich sehe es, wenn seine Schritte schwer über die knarzenden Dielen unserer Wohnung tönen, wenn er mit seinen zweiundvierzig Jahren schon so müde aussieht, so müde, dabei hält das Leben noch so viel für ihn bereit. Dabei versucht er jeden Tag aufs Neue, etwas im Leben zu finden, das ihn erfreut. Ich weiß genau, das ich einen beachtlichen Teil zu seiner inneren Müdigkeit beitrage. Manchmal, manchmal da erkenne ich in seinem erschöpften Gesicht die gleiche Müdigkeit, die auch in mir haust. Und meine Lebenszeit, die ich auf diesem Planeten erst hinter mich gebracht habe, beträgt nicht einmal die Hälfte der seinen.

LOVE LETTERS TO A STRANGERWhere stories live. Discover now