22 - Keine Zeit

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Syl und ich sahen uns die ganzen Ferien nicht. Keine Zeit, sagte er, wann immer ich fragte. Dass das nicht der Wahrheit entsprach, wusste ich. Er wollte mich einfach nicht sehen und ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum.

Eine Woche nach unserem Zusammentreffen mit dem Förster lag Shivan auf meinem Bett. Er hatte ein Feuerzeug in der Hand, das er immer wieder in die Luft warf, nur um es Sekunden später zu fangen.

„Wenn du dir solche Gedanken machst, können wir auch einfach zu ihm gehen", schlug er vor.

Das Feuerzeug flog in die Höhe.

Und landete in seiner Hand.

„Er will ja nicht", gab ich zurück.

Das Feuerzeug flog in die Höhe.

Und landete in seiner Hand.

„Vielleicht braucht er dich und will es nur nicht zugeben."

Das Feuerzeug flog.

Und landete.

„Oder er hat einfach keine Lust auf mich, weil ich ein feiger Trottel bin und er mehr von mir erwartet hat."

Das Feuerzeug ging mir auf die Nerven. Ich stemmte mich aus dem Sessel hoch und schnappte es Shivan aus der Hand.

Er drehte sich schwungvoll auf den Bauch, stützte seine Ellbogen in die Matratze und sah mich an.

„Er ist dein bester Freund, verdammt. Komm jetzt, wir fahren hin!"

Shivan nahm mir das Feuerzeug wieder ab und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden, ehe er seinen Rucksack vom Boden aufhob und sich über die Schulter warf.

Gemeinsam liefen wir die Treppen hinab und zogen uns an, draußen regnete es mal wieder. Typisch Herbst.

„Wollt ihr einen Schirm mitnehmen?", fragte meine Mutter, die aus dem Wohnzimmer kam, und ich schaute Shivan fragend an.

„Geht schon", lächelte der und zog sich die Kapuze seiner viel zu dünnen Jacke über den Kopf. Noch jemand, der es schwerer hatte als ich.

Während wir nebeneinander unter dem wolkenverhangenen Himmel zur Bushaltestelle liefen, dachte ich darüber nach, wie sehr mich die ewigen Vorschriften meiner Mutter nervten und dass diese tatsächlich meine größten Probleme zu sein schienen.

Aber wie käme ich klar an Syls Stelle oder an Shivans?

Gar nicht wahrscheinlich. Syl hatte mich bereits als unselbständig bezeichnet und ich kam nicht umhin, ihm da zuzustimmen. Zuhause brauchte ich nichts tun, meine Eltern, besonders meine Mutter, kümmerten sich um alles. Dass immer genug Geld da war, frisches Essen im Kühlschrank und auf dem Tisch. Dass es sauber und ordentlich war und warm im Winter. Wenn ich eine neue Jacke bräuchte, müsste ich bloß meine Mutter darum bitten.

Als wir in den Bus stiegen, waren wir nass. Aber das machte nichts, denn trocken war's drinnen auch nicht unbedingt.

Shivan kaufte sich kein Ticket, obwohl ich mir sicher war, dass er keins hatte. Immerhin kam er nicht hier aus der Gegend. Oder hatte er sich bei seinem Weg hierher ein Viererticket besorgt? Aber abstempeln tat er auch nichts, stattdessen ließ er sich auf einem Sitz nahe der Tür nieder und zog sich die durchgeweichte Kapuze vom Kopf.

Ich konnte nur hoffen, dass wir keinem Kontrolleur begegneten.


Wir schafften es unbehelligt bis zu Syls Wohnung und ich drückte in alter Gewohnheit auf seine Klingel, ohne mir weiter Gedanken zu machen. Mein Herzklopfen begann erst, als wir die Treppe hinaufstiegen. Als ich Syl gegenüberstand, wurden meine Handinnenflächen feucht.

Im Internet gibt es keine FrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt