12 - Indien

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Zwei Wochen später saß ich wieder im Zug und diesmal hatte ich eine zweistündige Fahrt vor mir. Es war so weit: Obwohl die Klassenarbeiten vor der Tür standen und der nasskalte Herbst inzwischen komplett Einzug gehalten hatte, würde ich Shivan heute wiedersehen.

Syl war erneut meine Deckung, der Kumpel, bei dem ich vorgab zu sein, damit ich meiner Mutter nichts von dem Kerl aus dem Internet erzählen brauchte, in dessen Stadt ich unterwegs war. Bei ihr war ich mir sicher, dass sie es verbieten würde, der festen Überzeugung folgend, dass Shivan mich im Endeffekt doch nur umbringen wollte.

Syls Bedingung war, dass ich ihm alles erzählte. Und ihm ein Bild von Shivan machte, aber das hatte ich ihm schon von Beginn an verwehrt.

Die zwei Stunden fühlten sich an wie mindestens vier und trotzdem war die Zugfahrt viel zu schnell vorbei. Dieselbe Aufregung wie vor unserem ersten Treffen erfasste mich. Okay, vielleicht nicht ganz dieselbe, aber es fühlte sich ähnlich an. Verdammt ähnlich.

Meine Hände waren schwitzig, meinen Magen dominierte ein flaues Gefühl und ich bereute die zwei Nutellatoast, die ich gefrühstückt hatte. Wie dumm von mir anzunehmen, dass ich weniger aufgeregt sein würde, jetzt, wo ich Shivan schon kannte.

Schon beim Einfahren des Zuges konnte ich ihn am Bahnsteig stehen sehen. Er lehnte an dem Geländer, hinter dem die Rolltreppe ins Innere des Bahnhofs führte, hatte die Arme verschränkt und schaute dem Zug entgegen. Sein Blick suchte die vorbeikommenden Fenster ab, wahrscheinlich versuchte er mich zu entdecken, aber ich saß zu weit hinten. Wir hielten, bevor ich auf Shivans Höhe war.

Er entdeckte mich dann trotzdem ziemlich schnell zwischen all den anderen Menschen, die gemeinsam mit mir aus dem Zug strömten.

Was die wohl alle hier wollten?

Shivan lächelte, während er mir entgegenkam. Bevor ich ihn begrüßen konnte, umarmte er mich genau so herzlich, wie er mich verabschiedet.

„Hey", lächelte er dann, als er sich wieder von mir gelöst hatte. Im Gegensatz zu mir wirkte er sehr viel entspannter heute. „Wie geht's dir?"

„Gut", erwiderte ich fast gehetzt.

Shivan grinste.

„Wird schon", meinte er, dann gingen wir zusammen die Treppen hinunter und begaben uns zum Bussteig. Shivan trug dieselbe Kapuzenjacke wie bei unserem letzten Treffen, obwohl es inzwischen einige Grad kälter war. Mit hochgezogenen Schultern vergrub er die Hände in den Hosentaschen seiner schlabberigen Hose.

„Ist dir nicht kalt?", fragte ausgerechnet er dann mich und deutete die auf die halblange Cargohose, die ich trug. Die ich immer trug, egal welche Jahreszeit es war.

„Man gewöhnt sich dran", erwiderte ich, denn kalt war mir tatsächlich nicht. Lange Hosen konnte ich nicht ausstehen, in ihnen fühlte ich mich entweder wie eine Wurst in der Pelle oder als trüge ich ein Zelt, auch wenn es in der Realität gar nicht so schlimm aussah. Es fühlte sich so an und das war schlimm genug.

Shivan sah nicht überzeugt aus.

„Wir fahren jetzt erst mal zu mir nach Hause, dachte ich. Danach hab ich auch noch 'ne Idee, was wir machen können. Magst du Tiere?", weihte er mich in seine Pläne ein.

„Tiere sind okay", meinte ich, denn viel zu tun hatte ich mit ihnen nicht. Haustiere besaßen wir keine, Syl genau so wenig.

„Okay", wiederholte Shivan und lachte. „Das höre ich auch zum ersten Mal."

Einen Bus ließen wir fahren, der nächste brachte uns in den Stadtteil, in dem er bei seiner Mutter wohnte.


Im Internet gibt es keine FrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt