33 - Das letzte Game ist gespielt

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Obwohl Syl die letzten Wochen über immer pünktlicher gekommen war, bleibt sein Platz am Montagmorgen leer. Die ganze erste Stunde schaue ich immer wieder zur Tür oder aus dem Fenster. Aber er kommt nicht. Auch nicht zur zweiten Stunde, nicht zur dritten. Er bleibt den ganzen Montag weg und auch am Dienstag kommt er nicht zur Schule. Vielleicht ist er krank, denke ich mir, aber mein Gefühl sagt mir, dass er es nicht ist. Als er bis Donnerstag wegbleibt, gehe ich nach vorn und frage unsere Klassenlehrerin nach seinem Verbleib.

„Ach, du weißt es noch gar nicht?" Sie schaut mich überrascht an, und ihre Worte lassen mein Herz schneller schlagen.

„Nein, was denn?" Kurz habe ich Angst, dass Syl etwas zugestoßen ist, aber bevor die Sorge mir die Kehle zuschnüren kann, redet sie schon weiter.

„Sylvester hat die Schule gewechselt. Er geht nicht mehr in unsere Klasse. Das fand ich mitten im Schuljahr zwar keine besonders gute Idee, aber was hab ich schon zu sagen."

„Was?", frage ich, und der Schock scheint mir ins Gesicht geschrieben zu stehen, denn meine Lehrerin nickt mitfühlend.

„Ja. Aber mehr darf ich dir leider nicht verraten, Denny."

Ich nicke und fühle mich wie betäubt. Das Blut rauscht durch meine Ohren, während ich mich abwende, ein „Okay, danke" murmle und den Klassenraum Richtung Pausenhof verlasse.

Syl hat die Schule gewechselt. Wegen mir? Oder messe ich mir da mal wieder zu viel Bedeutung bei, denke zu sehr nur an mich? Er hat die Schule bestimmt nicht wegen mir gewechselt.

Ich verziehe mich auf die Toilette und schließe mich in einer Kabine ein, damit ich in Ruhe auf mein Handy schauen kann. Mich kein Lehrer dabei stört und ich mir die Blicke der anderen Schüler spare, die mich innerlich entweder bedauern oder auslachen, weil mein einziger Freund nicht mehr nicht nur nicht mehr mein Freund ist, sondern gar nicht mehr da.

Zuerst tippe ich auf meinen Chat mit Syl. Ich spüre einen Stich in meinem Herzen, als ich das Datum der letzten Nachrichten sehe. Nie hätte ich gedacht, mal so lange nicht mit Syl zu reden.

Ich würde ihm so gern schreiben. Ihn fragen, auf welcher Schule er jetzt ist und wie es ihm dort geht. Wie es ihm generell geht. Wieso er die Schule gewechselt hat. Ist er umgezogen? Mit seiner Mutter? Oder haben sie ihn ihr doch weggenommen? Ist seine Sorge wahr geworden? Und wenn ja: Geht es ihm besser als vorher oder schlechter? Er hat sich immer jemanden gewünscht, der sich um ihn kümmert ... aber dass er an einem solchen Ort gelandet ist, sagt ja keiner.

Mein Herz klopft schneller, als mir klar wird, dass ich ihn wahrscheinlich wirklich nie wiedersehen werde. Dass ich nicht mal mehr bei ihm vorbeigehen kann, wenn er wirklich nicht mehr bei seiner Mutter lebt. Auf meine Nachrichten wird er nicht antworten, und ich sollte ihm auch keine schreiben. Sollte akzeptieren, dass er seine Ruhe vor mir will, denn ich bin verdammt noch mal schuld an der ganzen Misere ... Oder ist es jetzt anders? Ist er jetzt vielleicht weniger sauer, wenn sich sein Leben so sehr verändert hat?

Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich möchte er noch weniger von mir hören als zuvor schon. Mein Gefühl sagt mir nämlich, dass es ihm dort, wo auch immer er jetzt ist, nicht besser geht.

Ich verlasse Syls Chat fluchtartig, bevor ich etwas Unüberlegtes tue, und rufe stattdessen Shivans auf. Aber auch ihm schreibe ich nicht einfach. Ich rufe zwar die Tastatur auf, aber dann halte ich inne und schaue den blinkenden Strich an, der geduldig auf meine Eingabe wartet.

Shivan musste sich genug von Syl anhören. Ich sollte ihn nicht schon wieder mit meinem ehemaligen besten Freund belästigen.

Also sperre ich mein Handy und schiebe es in meine Hosentasche. Mit einem tiefen Seufzen schaue ich auf die dreckigen Fliesen zwischen meinen Schuhen.


Ich bringe den Schultag irgendwie hinter mich und setze mich zuhause vor die Konsole. Mo ist online. Ich habe schon ewig nicht mehr mit ihr geredet, und es fühlt sich auch komisch an, nur sie in eine Party einzuladen. Doch es scheint trotzdem eine gute Idee zu sein, mal wieder mit ihr zu zocken. Mich von Syl abzulenken, von Shivan, von dem Gefühl, immer alles falsch zu machen, und wieder ein bisschen mehr Normalität in meine Welt zu bringen – sofern das überhaupt möglich ist. Lange Zeit war mein Leben konstant, immer gleich. Und jetzt hat sich so rasend schnell alles verändert, dass ich nicht hinterher komme.

„Hey, Denny. Ewig nichts von dir gehört", begrüßt mich Mo, nachdem sie meiner Einladung gefolgt ist.

„Stimmt. Hast du Lust, was zu zocken?"

Wir entscheiden uns für ein Need for Speed im Multiplayer. Ich entscheide mich für die Raser, Mo spielt die Cops. Es beginnt wie beim letzten Mal. Wir sprechen über in-game Content oder überhaupt nicht. Bis Mo wieder nach Syl fragt und mein Herz sich schmerzhaft zusammenzieht.

„Ich weiß nicht", versuche ich, das Gespräch abzuwenden.

„Wie, du weißt nicht? Ihr seid doch beste Freunde. Außerhalb von Online-Lobbys und dem ganzen Kram."

„Weiß ich auch nicht", murmele ich, was Mo nur noch verwirrter nachfragen lässt.

„Ich weiß nicht, ob wir noch Freunde sind", gebe ich ungehalten, fast schon wütend zurück. Mo kann nichts für die Situation, das weiß ich – aber sie könnte das verdammte Tema einfach ruhen lassen. Nicht ständig nachbohren, sondern einfach verstehen, dass ich nicht über Syl sprechen möchte.

„Tut mir leid, dass ich gefragt hab", gibt sie schnippisch zurück und schweigt.

Ich drifte mit meiner roten Viper um die Ecke und rase auf die Straßensperre zu. Kurz vorher täusche ich nach rechts an und rutsche nach links in eine Gasse. Die Zahl meiner Sterne erhöht sich.

Wir beenden die Runde schweigend, denn Syl war wahrscheinlich wirklich unser Kit. War der Grund dafür, dass ich neben ihm noch weitere Freunde gehabt hatte.

„Bis dann", sagt Mo, ehe sie die Party verlässt, ohne eine Antwort von mir abzuwarten.

Und wieder bin ich allein mit meinen Gedanken. Allein mit meiner Konsole. Und obwohl ich Stunden um Stunden ohne eine weitere Menschenseele in diesem Zimmer verbracht habe, habe ich mich noch nie so einsam gefühlt wie jetzt. Ich schalte die Konsole bald aus, weil ich keinen Spaß am Zocken finde. Stattdessen schalte ich den Fernseher ein und verkrieche mich in meinem Bett. Während die Schauspieler im Hintergrund brabbeln, läuft eine Träne in mein Kissen.

Ich vermisse Syl.

Ich vermisse ihn so verdammt sehr, dass mein Herz schmerzt. Jedes Pochen drückt mir die Luft ein wenig mehr ab. Ich werde Syl nie wieder sehen. Wir werden nie wieder zusammen in den Wald ziehen, auf Dosen schießen und bei ihm zuhause essen. Er wird mir nie wieder durchs Headset ins Ohr rülpsen und online genauso schlecht schießen wie offline. Ich werde nie wieder mitkriegen, wie er sich auf Mathe freut und dann trotzdem an den einfachsten Aufgaben scheitert. Ich werde niemals alt genug sein, um endlich die ganze Nacht mit ihm zu zocken – denn unser letztes gemeinsames Game ist gespielt und ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht mal, dass wir das nie wieder tun werden. 

Im Internet gibt es keine FrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt