Teil 1

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Xayra

Man muss sich die Freiheit nehmen. Sie wird einem nicht gegeben.
-Meret Oppenheim

Schwer atmend drücke ich mich gegen die kalte Mauer, der nach Urin stinkenden Gasse.
Habe ich sie abgehängt?
Vorsichtig linse ich um die Ecke.
Weit und breit keiner von König Gregory Beauforts Wachen zu sehen. Anscheinend finden sie sich in den verwinkelten Gassen des Salix-Viertel nicht so gut zurecht.
Heute muss wohl mein Glückstag sein!
Ein triumphierendes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen.
„Dort hinten!" höre ich plötzlich die Stimme eines Mannes und schon sehe ich fünf Wachen der königlichen Garde auf mich zu rennen.
Verdammte Scheisse!
Was sagt Vater immer? Man soll sich eben nicht zu früh freuen.
Ich nehme Anlauf und klettere schnell auf die Mauer direkt vor mir. Auf der anderen Seite lasse ich mich herunterfallen und renne los.
Hinter mir höre ich die lauten Rufe der Wachen. Ein kurzer Blick zurück zeigt mir, dass die ersten bereits über die Mauer geklettert sind. Ich lege noch einen Zahn zu und biege erneut ab.
Wenn die Wachen mich erwischen, bin ich so gut wie tot. Rebellen werden nun mal nicht verschont.
Nach rechts und danach gleich nochmal abbiegen. Ich darf nicht allzu lange einfach nur geradeaus laufen, sonst würden sie mich schneller einholen. Ausserdem hoffe ich, sie durch den ständigen Richtungswechsel zu verwirren und abzuhängen.
Mein Atem wird immer angestrengter.
Allzu lange werde ich nicht mehr weglaufen können. Es wird also höchste Zeit die Hornochsen hinter mir loszuwerden.
Bei der nächsten Abzweigung gehe ich, entgegen der Erwartung meiner Verfolger, weder nach rechts noch nach links.
Stattdessen renne ich mit voller Geschwindigkeit auf die Fassade des Hauses vor mir zu. Ich springe und klammere mich an der Fensterbank fest. Geschickt ziehe ich mich daran hoch und klettere geübt in die Richtung des Daches. Oben angekommen, zögere ich nicht lange und renne sofort weiter.
Die Wachen von König Beaufort sind meist nicht gerade unsportlich. Ich müsste dementsprechend also enormes Glück haben, wenn gleich alle fünf nicht hier hochkämen. Mit aller Wahrscheinlichkeit wird höchstens einer mich nicht weiterverfolgen können. Schade aber, dass trotzdem noch vier übrig bleiben...
Wo ist bloss eine gute Ablenkung, wenn man sie braucht?
Flink springe ich von einem Hausdach zum nächsten. Bevor meine Verfolger ebenfalls auf die Dächer gelangen können, klettere ich schon wieder runter, zurück in die verwinkelten Gassen.
Einige Abzweigungen später befinde ich mich dann auf dem grossen Marktplatz des Salix-Viertels. Ich verlangsame meine Schritte und ziehe die Kapuze meines dunkelgrauen Umhangs tiefer in mein Gesicht. Danach mische ich mich unter die wenigen Menschen, die zu dieser späten Stunde noch draussen unterwegs sind.
Erfahren schlängele ich mich durch die Leute und verlasse den Marktplatz wenig später auch schon wieder. Gerade als ich erneut in eine dunkle Passage einbiege, höre ich die lauten Geräusche und Stimmen, die die Ankunft der königlichen Wächter auf der anderen Seite des Marktplatzes ankündigen. Bevor sie aber auch nur die Chance gehabt hätten mich zu sehen, bin ich schon verschwunden.
Dieses Mal sollte ich sie wirklich abgehängt haben.
Leise, aber dennoch mit schnellen Schritten, laufe ich durch die dunkeln Strassen. Selten wird mein Weg von einer Fackel beleuchtet, doch dies ist kein Problem für mich. Immerhin bin ich hier aufgewachsen. Ich kenne jede Gasse, jeden Winkel und jedes Versteck dieses Viertels in und auswendig.
Nur noch ein paar Abzweigungen und schon bin ich zu Hause.
Ich beschleunige meinen Gang noch ein bisschen. Mittlerweile bin ich echt müde und möchte eigentlich nur noch schlafen gehen, doch davor muss ich meinem Vater erst noch Bericht erstatten.
Einmal links abbiegen und einmal rechts, dann wäre ich zu Hause gewesen, aber nein, ausgerechnet jetzt muss schon wieder einer dieser verfluchten Wachen direkt vor mir auftauchen.
„Hab ich dich!" ruft er und kommt mit einem fetten Grinsen im Gesicht auf mich zu.
Genervt stöhne ich auf.
Was für Kletten diese Leute doch sind. Kleben einem andauernd am Arsch wie Küken, die ihrer Mutter folgen.
Suchend blicke ich mich um, ohne aber den bärtigen Typen vor mir allzu lange aus den Augen zu lassen.
Anscheinend ist er alleine hier... was für ein dämlicher Fehler.
Als er auf mich zu kommt, weiche ich ein paar Schritte zurück. Dies bestärkt ihn offensichtlich in seiner Meinung der stärkere von uns beiden zu sein, denn sein Grinsen wird noch breiter und seine dunklen Augen funkeln siegessicher.
König Beaufort hat zugegebenermassen gut ausgebildete und einigermassen kompetente Wachmänner, doch an Intelligenz fehlt es ihnen ganz klar.
Der breit gebaute Mann schreitet weiter unbeirrt auf mich zu... gut so.
In dem Moment, in dem er im Richtigen Abstand zu mir und weit genug in der Gasse steht, dass man ihn von der Kreuzung aus nicht mehr sehen wird, schliesse ich blitzschnell meine Finger um den kalten Griff des Dolches, welcher unter dem Umhang an meiner Hüfte hängt. Mit einer geübten Bewegung werfe ich das scharfe Messer in die Richtung des Mannes.
Zielsicher bohrt es sich mit voller Wucht in die Stelle, direkt zwischen seinen Augen.
Sofort tot, kann der Wachmann nicht einmal mehr einen Laut von sich geben. Er kippt einfach nur rückwärts auf den Boden und bleibt regungslos liegen.
„Regel Nummer eins: Unterschätze niemals deinen Gegner." murmele ich die Lehren meines Vaters vor mich hin, während ich auf die Leiche zulaufe.
Unbehelligt ziehe ich meinen Lieblingsdolch aus dem Schädel meines Feindes. Achtlos wische ich das beschmutzte Metall an der Kleidung des toten Wachmannes ab.
Er hat bestimmt nichts dagegen.
Den sauberen Dolch stecke ich zurück an seinen Platz an meiner Hüfte. Danach mache ich mich wieder auf den Weg nach Hause.

Nach nur kurzer Zeit bin ich endlich vor dem, mit Lehm verputzten, Haus angekommen. Leise öffne ich die Holztür und gehe in das kleine Gebäude.
Aus dem Nebenzimmer höre ich die dumpfe Stimme meines Vaters und die von Troy, einem unsere Verbündeter und Vaters rechte Hand. Als ich den Raum betrete, liegen sofort die Blicke beider Männer auf mir.
„Xayra." begrüsst mich mein Vater, der gegenüber von Troy, in einem Sessel am Feuer sitzt.
„Was hast du uns zu berichten?" fragt mich Troy. Der blonde Mann wohnt im Gegensatz zu Mitchell, einem weiteren engen Verbündeten, bei uns und deshalb ist es auch keines Falls überraschend ihn hier zu so später Stunde anzutreffen.
„Leider nicht all zu viel." gestehe ich frustriert.
Meine Mission war es, herauszufinden wofür der König die ganzen Staatsgelder aus dem Fenster wirft. Das Essen wird knapp im Königreich und trotzdem braucht König Beaufort die Gelder, die er von den viel zu hohen Steuern erhält, nicht für irgendwelchen Handel um Nahrungsmittel mit den Nachbarländern. Scheinbar sei kein Geld mehr vorhanden, behauptet jedenfalls der Stellvertreter des Königs. Doch wofür das ganze Geld ausgegeben wurde, weiss niemand.
„Wir brauchen aber irgendetwas, irgendeinen Anhaltspunkt, um möglicherweise sogar an das Geld heranzukommen." meint mein Vater ebenso frustriert von den wenigen Informationen, die meine Mission erbracht hat.
Der Kummer, die Verbitterung und die Sorge, denen er in den letzten Jahren immer wieder ausgesetzt war, lassen ihn älter aussehen.
Es finden sich bereits einige graue Haare unter seinen kastanienbraunen. Auch sein Gesicht verzieren tiefe Falten an der Stirn und um die Augen herum. Dennoch sollte man ihn nicht unterschätzen. Auch wenn er keine zwanzig mehr ist, erweist er sich trotzdem als starker Gegner im Kampf.
„Was ist also unser nächster Schritt?" Will Troy wissen.
„Ich werde Morgen nochmals dorthin gehen und versuchen mehr in Erfahrung zu bringen." sage ich entschlossen. „Wäre es nicht klüger zu warten, bis sich die Situation wegen deines Einbruchs in den Palast wieder beruhigt hat?" fragt mein Vater.
„Das wäre doch genau das, was sie erwarten. Ausserdem könnten bis dahin die Wachen verdoppelt werden." erkläre ich.
„Macht es denn überhaupt Sinn nochmal in den Unterlagen der Staatsverwaltung nach den Steuergeldern zu suchen?" fragt Troy skeptisch nach. Verständlich, da er wohl davon ausgeht, dass ich mir schon alles angesehen habe.
„Ich konnte nicht alles durchsehen, da mich die Wachen zu früh bemerkt haben."
Troy nickt verstehend.
„Dann solltest du wohl besser schlafen gehen. Wenn du das Morgen machen willst, musst du ausgeruht sein." meint mein Vater und ich gebe ihm Recht.
Morgen darf ich mir erst recht keine Fehler erlauben. Ich muss wachsamer und geschickter vorgehen, als ich es heute getan habe.
Ausserdem brauche ich einen neuen Plan, um in die Kammern der Staatsverwaltung zu gelangen. 
Ich verabschiede mich von den beiden Männern und wünsche ihnen eine angenehme Nacht, falls sie überhaupt schlafen gehen würden.
Morgen wird wieder ein anstrengender Tag, doch die Mühe wird sich irgendwann lohnen. Es wird der Tag kommen, an dem das Regime fällt und die Menschen im Königreich Aronia wieder in Frieden leben können.

Wie ist eure Meinung zum ersten Kapitel?
Habt ihr schon irgendwelche Ideen wie es weiter gehen könnte?

XayraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt