Kapitel 6

303 30 2
                                    

„Erys!"

Diesmal war ich mir sicher, dass ich mir die Stimme des Sturmalben nicht eingebildet hatte. Geschockt riss ich die Augen auf und starrte die vertrauten Umrisse an, die sich durch die Dunkelheit auf mich zubewegten.

„Arden?!"

Meine Stimme gellte schon über den Rasen vor dem Haus, bevor ich vollständig realisiert hatte, dass ich mir die Stimme des Sturmalben nicht eingebildet haben konnte.

Arden war hier.

In der Gemeinschaft.

Zu früh, schoss es mir durch den Kopf, während alles Blut aus meinem Gesicht wich.

Er bewegte sich mit großen Schritten auf mich zu, aber ich konnte meine Füße nicht lösen, um ihm entgegenzulaufen. Meine Beine waren verwurzelt mit dem Boden über den das Blut abertausender Licht- und Nachtalben geflossen war.

Unwillkürlich musste ich an die letzte Begegnung zwischen Arden und Zephael denken; an Ardens Geständnis: Sollte es mir Sorgen machen, dass ich ihn gerne in seine Schranken weise? Keiner der beiden hatte einen Hehl aus seiner Abneigung gemacht.

Warum nahm der Sturmalb das Risiko auf sich, das dieses Wiedersehen mit sich brachte? In meiner Erinnerung hatte ich mich mit entschiedener Endgültigkeit von Arden verabschiedet, bevor er sich auf den Weg in die Akademie gemacht hatte. Ohne ihm ein Datum oder Versprechen der Rückkehr zu geben – aber in dem Wissen, dass er in Sicherheit wäre, gleich was in der Gemeinschaft geschehen würde.

Noch während ich in meine Ängste versunken war, tauchte an Ardens Seite eine weitere Silhouette aus dem Wald auf. Ihre Augen brannten sich durch die Finsternis wie glühende Kohlen.

Mein Mund wurde trocken, während meine Verwirrung ins Bodenlose wuchs. „Und ... Avna?"

Ich sah noch, wie sich hinter Avna und Arden zwei Fremde aus den Schatten lösten, bevor mir der Blick von einem breiten Oberkörper versperrt wurde.

Arden schlang die Arme um mich, als hätten wir uns nicht zwei Wochen, sondern zwei Jahre nicht gesehen. Irgendwo in dem Graubereich zwischen Schock und Freude gefangen ließ ich zu, dass wir einige Momente verschlungen dastanden, bevor ich ihn von mir drückte.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen forderte ich eine Erklärung. „Was zum Teufel tust du hier?"

„Was für eine enthusiastische Begrüßung", murmelte er mit zuckenden Mundwinkeln. Mein Gesichtsausdruck ließ ihn jedoch schnell auf die eigentliche Frage zurückkommen. „Bevor du wütend wirst: Ich weiß, dass ich nicht hier sein sollte, aber ich konnte nicht stillsitzen, während–"

„Arden. Ich entschuldige mich dafür, an deinem Wort gezweifelt zu haben", unterbrach ihn eine helle Stimme, ohne das Ende seiner Entschuldigung abzuwarten.

Mein Blick schwenkte zu der fremden Lichtalbin, die mindestens zwei Köpfe über mir aufragte. Ins Mondlicht getränkt leuchteten ihre hellblonden Haare silbern. Die Fremde umgab eine dominierende Aura, doch ich konnte mich nicht davon abhalten, Avna anzustarren. Die junge Feueralbin ließ nicht durchscheinen, dass sie mich wiedererkannte.

„Ich hab dir doch gesagt, dass er in Ordnung geht", murrte sie in ihren nicht vorhandenen Bart. Auf den ersten Blick sah Avna aus wie immer; die blonden Korkenzieherlocken waren auf Kinnlänge abgesäbelt und ihre gelb-orangen Iren flackerten bedrohlich. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie verstimmt war.

Um ihren Oberkörper war jedoch keines der vertrauten Print-T-Shirts gewunden, sondern eine strahlend weiße Tunika mit goldgetunkten Säumen. Ich musste nicht lange überlegen, bevor ich die Uniform erkannte. Leicht und wendig, ideal für Kämpfe mit Elementarmagie; außerdem stach sie aus der dunklen Nacht hervor wie ein rettender Sonnenaufgang. Es handelte sich eindeutig um die traditionelle Rüstung der Schar, die ich bislang nur aus Büchern und Zeichnungen gekannt hatte.

Die Gemeinschaft der Nachtalben - Band IIWhere stories live. Discover now