Kapitel 36

1.3K 146 53
                                    

Joels Sicht

,,Meine Schwester hat es damals gut zusammen gefasst als sie erzählt hat, dass sie gar nicht weiß wann es genau angefangen hat. Punkt ist nur, es hat angefangen. Irgendein Schalter hat sich im Kopf meines Vaters umgelegt und von da an geriet alles außer Kontrolle. Ich bin einerseits manchmal ganz froh darüber, dass ich noch so klein war und mich an vieles nicht mehr so genau erinnern kann, doch andererseits wünschte ich, ich wäre alt genug gewesen, um mich zu wehren. Manchmal wünschte ich, mein Vater hätte es mehr auf mich abgesehen gehabt als auf meine Schwester. Manchmal wünschte ich, ich wäre der Ältere von uns beiden, damit ich meine Schwester hätte beschützen können. Hilfe holen hätte können als wir sie gebraucht haben. Ich weiß, dass ich die Zeit nicht zurück drehen kann und trotz allem würde ich alles dafür tun, nur um diesen einen Tag zu verhindern, an dem ich meine Schwester verloren habe" meine Stimme brach wie von alleine ab und kurz atmete ich tief ein und aus und sprach dann weiter. 

,,Saphira heißt eigentlich Bea und ich weiß im Grunde, dass mit jedem Schlag, mit jedem Tritt, mit jeder Narbe, die mein Vater hinterlassen hat, Bea damals immer mehr aufgehört hat zu leben. Wir haben so viele Nächte gemeinsam in einem Bett geschlafen, uns gegenseitig gehalten und nicht los gelassen und auch, wenn sie es mich nie sehen lassen hat, war mir klar, dass meine Schwester leidet und droht zu brechen. Und egal, wie sehr ich mich angestrengt habe mit meinen jungen Jahren für sie dazu sein, ich hab spätestens versagt, als man sie mir einfach weggenommen hat und ich nichts dagegen unternommen habe. Blindlings meinen Eltern Glauben geschenkt habe als sie mir sagten, dass Bea mich freiwillig verlassen hat. Ich hab es ihnen einfach geglaubt, ausgerechnet den Menschen, die bis zu dem Zeitpunkt nie wirklich für mich da gewesen waren, habe ich geglaubt statt einfach mal auf die Idee zu kommen, dass Bea nicht freiwillig gegangen ist. Ich hab die ganzen Jahre wirklich über gedacht, dass es ihr gut ginge, doch spätestens als ich sie nach all den Jahren das erste mal wieder gesehen habe war mir klar, dass sie fort war. Das Mädchen, dass da im Bett lag, war nicht mehr meine große Schwester Bea" kurz atmete ich tief ein und aus ehe ich weiter erzählte und dabei genauestens Lions Blick auf mir spürte. 

,,Ich habe erst Monate später bei der Gerichtsversammlung erfahren, was es mit dem Verschwinden meiner Schwester wirklich auf sich hatte. Nach ihrer Rückkehr hatte man mir erzählt, dass sie entführt worden sei und meine Eltern mich bewusst belogen hatten, um mich nicht traurig zu machen. Dann aber stellte sich heraus, dass sie nicht entführt worden war sondern mein Vater sie verkauft hatte" Gleich nach meinen Worten hörte ich Lion entsetzt nach Luft schnappen und unwillkürlich entwich mir ein verbittertes Lachen. 

,,Genauso hab ich damals auch reagiert. Meine Schwester, von der ich all die Jahre dachte, sie hätte mich freiwillig zurück gelassen war nicht nur verkauft worden, sondern hatte damals auch verhindert, dass es mir genauso ergeht. Sie hat sich einfach geopfert, um mich zu beschützen und während sie durch die Hölle gegangen ist erging es mir im Endeffekt gut. Mein Vater besiegte seine Alkoholsucht, meine Mutter wurde wieder zu einer fröhlichen Frau und das beste noch, beide beschlossen sie einfach eine neue Tochter zu adoptieren und so zutun als gäbe es meine richtige Schwester nicht. Und ich Depp hab einfach mitgespielt" 

Und das würde ich mir nie verzeihen. Egal wie oft mir Saphira noch klar machen würde, dass ich nichts dafür konnte und zu klein war, um auch nur irgendwie darauf zu kommen, was ihr passiert war, ich würde es mir nie verzeihen einfach weiter gelebt zu haben als wäre alles gut. 


,,Joel, dir ist doch hoffentlich klar, dass du an nichts Schuld trägst oder? Das, was deiner Schwester passiert ist, dafür tragen einzig und alleine deine Eltern die Schuld" 

,,Und trotz allem bleibt das schlechte Gewissen. Ich meine Lion, wie soll ich mich auch nicht schuldig fühlen. Ich habe gelacht, hab die Schule besucht, Freunde getroffen und sogar Urlaub gemacht während meine Schwester durch die Hölle gegangen ist. Man hat ihr so viel Leid zugefügt, dass sie es selbst nicht mal alles aufzählen kann. Das sie manchmal schreiend nachts aufwacht und sich in diesen Erinnerungen verliert, dass wir Angst haben müssen sie endgültig zu verlieren. Ich weiß, dass ich die Zeit nicht zurück drehen kann, doch weißt du wie gerne ich es würde. Wie gerne ich diesen Tag verhindern würde, um ihr all den Schmerz zu nehmen, den sie all die Jahre über gespürt hat. Um ihr all die Erinnerungen zu nehmen, die sie seitdem Tag und Nacht plagen. Um all ihre Dämonen zu vertreiben, die sie ihr Leben lang jetzt verfolgen werden" 

Augenblick zielgerichtet ins HerzWhere stories live. Discover now