Die Hängebrücke

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Ich stand auf, sah aus meinem Schlafzimmerfenster und traute meinen Augen nicht. Dort, wo gestern noch die grüne ungemähte Wiese mit den dahinter stehenden Häusern war, erblickte ich heute eine riesige Hängebrücke mit dicken Tauen, Holzdielen und blauen metallenen Verstrebungen. Ich kniff die Augen zu und öffnete sie wieder. Die beeindruckende Hängebrücke war noch da. Ich kniff meine Augen noch einmal zu und öffnete sie wieder, die Hängebrücke war immer noch da. Dieses Spiel wiederholte sich noch einige Male bis ich begriff, dass diese Hängebrücke wohl real war. Ich ging von meinem Fenster weg, zurück in mein Wohnzimmer zu meinem Stubentisch, dort wo meine Kamera lag. Ich war noch ein wenig schlaftrunken und fragte mich, ob mir der Sauerstoff irgendwie ausgegangen sei und riss das Wohnzimmerfenster zum Lüften weit auf. Auf dem Rückweg zum Schlafzimmer nahm ich meine Kamera mit und sah verwirrt auf die Rückseite meines Nachtlagers. Dort befand sich ein rundes Fenster statt eines eckigen. Seit wann hatte ich denn ein rundes Schlafzimmerfenster? Verwirrt blickte ich mich um. Da waren meine Kleiderschränke, dort mein Spiegel, da stand mein Bett mit meiner Bettdecke und meinem Kopfkissen. Es war alles da. Hektisch lief ich zurück ins Wohnzimmer, in mein Badezimmer, in die Küche. Alles war wie immer. Selbst mein schwarz-weißer Kater schnarchte auf seinem Kratzbaum leise vor sich hin. Merkwürdig. Ich öffnete auch in den anderen Zimmern die Fenster, zur Sicherheit. Vielleicht litt ich ja doch unter Sauerstoffmangel. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück und betrachtete in aller Ruhe mein neues rundes Fenster. Wo das wohl herkam? Ich erinnerte mich so rein gar nicht an dieses Fenster oder einen Umbau je zugestimmt zu haben. Denn gestern war es definitiv noch recheckig, so wie die anderen Fenster in meiner Wohnung. Bei meinem Blick hinaus aus meinem runden Bullauge sah ich sie wieder. Diese beeindruckende, einige Meter über dem Wasser schwebende Hängebrücke. Moment: Wasser? Seit wann ist denn ein See hier? Meine Augen flogen von links nach rechts und wieder zurück. Ich sah überall nur Wasser. Ich kniff wieder die Augen zusammen, doch Hängebrücke und See verschwanden nicht. Ich wollte es genauer wissen und hängte mich so weit wie möglich aus dem runden Fenster bis ich sah, dass das Wasser bis wenige Meter vor das Haus kamen und fragte mich wieder: Wo kommen Hängebrücke und der See plötzlich her. Durch die Wand hörte ich meine netten Nachbarn. Es waren Oli und seine Mutter, die sich angeregt miteinander unterhielten. Worüber, konnte ich nicht verstehen. Aber ich hörte sie. Ich war erleichtert. Sie sahen wohl auch die Hängebrücke und den See hinter unserem Haus. Ich machte einige Aufnahmen von dem unglaublichen Anblick dieses blau-braunen Riesen direkt vor mir, mal in Hochformat, dann in Querformat. Einige Male zoomte ich mit meiner Kamera auch näher ran, nur um die Details genauer zu sehen, wie die Hängebrücke so über dem Wasser schwebte und kleine Nebelschwaden sie ganz zart umzingelten. Beeindruckend.

Ich hielt es nicht mehr länger in meiner Wohnung aus, streifte mir meine Jeans über, schnappte mir meine Jacke im Vorbeigehen, verließ meine Wohnung und eilte, nachdem ich die Tür verschlossen hatte, die alten grauen Steinstufen hinab bis ich die Haustür erreichte. Ich riss sie fast heraus, so eilig hatte ich es auf einmal hinaus zu kommen. Ich wollte das Haus umrunden, um zu der Brücke zu gelangen und fand auch einen kleinen Pfad, der gestern auch noch nicht da gewesen war. Kopfschüttelnd und an mir selbst zweifelnd folgte ich diesem schmalen Pfad, der nur aus Erde und ein wenig Regen bestand, so dass sich meine Schuhe etwas in der matschigen Erde festsaugten und ein schmatzendes Geräusch machten als ich sie zu einem weiteren Schritt wieder herauszog. Ich hätte mir wohl besser Gummistiefel angezogen, wenn ich das eher gewusst hätte. Endlich hatte ich mein Wohnhaus umrundet und da sah ich sie. Ich stand direkt vor ihr. Die Hängebrücke. Ich betrachtete sie eine ganze Weile fasziniert von oben bis unten, von links nach rechts. Sie war etwa 2,5 bis 3 Meter breit, die Geländer zu beiden Seiten waren aus dicken Tauseilen gemacht, deren kleine Verstrebungen bis unter die Holzbretter liefen und dort befestigt waren. Direkt vor mir, also auf der stabilen Seite waren ihre blauen Eisenstangen in Beton eingelassen, für ihren Halt. Die Holzbretter in der Mitte, die als Fußweg dienten, sahen schon alt aus, so als ob sie bereits mehrere Jahre oder Jahrzehnte als Verbindung zwischen zwei Orten diente. Der blaue Farbanstrich aber war neu. Niemand spazierte über diese Hängebrücke, es war so, als existierte sie gar nicht, außer für mich. Vorsichtig, ganz vorsichtig ging ich auf die Hängebrücke zu und setzte zitternd meinen rechten Fuß auf das erste Holzbrett und vernahm den etwas dumpferen Klang beim Auftreten. Ich prüfte mehrfach die Standhaftigkeit mit ein wenig Schwung und Druck mit meinem rechten Bein, den ich auf das Holzbrett ausübte. Es war stabil. Außerdem war ich mir nicht sicher, ob das hier auch wirklich geschah. Doch es war so. Ich stand mit einem Bein auf der riesigen Hängebrücke. Ich wagte einen ganzen Schritt. Einen kleinen Schritt. Ich wollte immer noch die Chance haben, zurück zum Ufer springen zu können. Die Brücke existierte und ich stand sicher auf ihr. Okay. Vorsichtig lief ich Schritt für Schritt auf der Brücke und wurde immer sicherer und sicherer. Mit jedem Schritt nahm auch meine Schrittgröße zu. Irgendwann nach vielen Metern, ich hatte noch nicht einmal die Brückenmitte erreicht, nahm ich die Brücke kaum mehr wahr, denn ich sah nur noch das viele Wasser um mich herum und die Häuser, die diesen See oder war es ein Fluss (?) in seine Schranken wies. Weit vor mir sah ich eines dieser kleinen Boote wie ich sie aus Italien kenne, dort drüben noch eins und da gleich 3 Boote. Ich drehte mich um, hetzte auf die andere Seite der Brücke und sah, dass auch auf der anderen Seite des Sees vereinzelt kleine Boote umherschipperten. Ich fühlte mich fast wie in Venedig. Diese kleinen Gondeln waren klasse. Ich liebte sie schon als Kind als ich die ersten Fotos oder Filme damit sah. Jetzt waren sie real und fast zum Greifen nah. Doch ich stand auf einer Hängebrücke und konnte sie nicht erreichen. Deshalb beobachtete ich, wie eines dieser kleinen Venedigboote unter der Brücke auf der einen Seite verschwand und auf der anderen Seite wieder auftauchte. Ich war begeistert und machte zum Beweis – für mich, weil ich es noch immer nicht glauben konnte – jede Menge Fotos ehe ich zu dem anderen Ufer auf der anderen Seite der Brücke weiterlief. Mein Blick streifte abermals sehr oft die beiden Seiten zur Brücke. Ich konnte einfach nicht genug bekommen von den kleinen Booten, dem Wasser und der Hängebrücke selbst.

Als ich auf der anderen Seite der Brücke angekommen war, warf ich ihr noch einen letzten Blick zu ehe ich mich dem Ort, der nun vor mir lag, widmete. Dann drehte ich mich um und stand vor einem Eingangsschild. TORGAU stand mit riesigen schwarzen Lettern auf einem gelben Schild vor mir. Verdutzt schaute ich es an. Torgau? Wieso Torgau? Torgau ist doch über 34 Kilometer von Wurzen entfernt! Und es gab auch keinen See und keine Hängebrücke, die die beiden Orte miteinander verband. Ich litt wohl noch immer unter akutem Sauerstoffmangel, etwas anderes konnte ich mir nicht erklären. So betrat ich Torgau, einen Ort, den ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr besucht hatte. Er hatte sich kaum verändert. Seit meinem letzten Besuch, das war sehr sehr lange her, da war ich noch ein Kind, hat sich wirklich nicht gerade viel verändert. Erstaunlich. Ich fand nach einiger Zeit und vielen schmalen Gassen und etwas breiteren Straßen den Marktplatz. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas oder irgendwen zu suchen. Ich konnte mich aber nicht mehr daran erinnern, was das war. Ich drehte mich einige Male um mich selbst im Kreis, um mir den Marktplatz von Torgau genau anzusehen und dann sah ich meinen Onkel über den Platz radeln. Er hat mich wohl nicht gesehen, deswegen rief ich ihm hinterher. Er hielt an und begrüßte mich von weitem, während ich auf ihn zueilte. Er fragte mich: “Hallo, was machst du denn hier?” und ich berichtete ihm von der Hängebrücke, von der er allerdings bescheid wusste. Verwirrt blickte ich ihn an. Er mich ebenfalls. Es sah so aus, als hielt er mich für eine Verrückte. So langsam glaubte ich es ja selber und hielt besser meine Klappe. Ich lächelte und erkundigte mich nach seinem Weg und seinem Anliegen für seinen Torgaubesuch. Schließlich erinnerte ich mich daran, dass er auch in Wurzen lebte und nicht Torgauer war. Er entgegnete mir, dass er hier gern zum Einkaufen sei und er hier hin und wieder einigen alten Arbeitskollegen und Freunden von früher begegne, zum Reden. Er wollte auch weiter, weshalb wir uns voneinander verabschiedeten und er sich wieder auf seinen alten Drahtesel schwang und davon radelte. So war ich wieder allein. Mitten auf dem Marktplatz in Torgau und wusste nicht mehr, wie ich wieder zurück nach Hause kommen sollte. Einen Stadtplan hatte ich leider nicht und ich konnte mich auch nicht mehr erinnern aus welcher Richtung ich gekommen war und wo sich die Hängebrücke befand, über die ich nach Torgau gekommen bin. Verwirrt lief ich in die entgegen gesetzte Richtung, in die mein Onkel fuhr. Ich vermutete, dass er, aufgrund seiner leeren Taschen, erst noch einkaufen wolle, und beschloss eben besagte entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Ich irrte Stunden lang durch kleine Gässchen, entdeckte hier und da mal ein schönes Gebäude oder etwas anderes Interessantes, aber den Weg zurück zur Hängebrücke fand ich nicht mehr. Genauso wenig den Weg zurück zum Marktplatz. Es war hoffnungslos. Ich steckte irgendwo im Nirgendwo fest und fand nicht mehr nach Hause. Lustlos und traurig ließ ich meinen Kopf sinken, Tränen stiegen in meinen Augen allmählich auf, meine Füße brannten auch schon seit einer ganzen Weile und ich wollte einfach nicht mehr weiter. Ich wusste ja sowieso nicht in welche Richtung ich genau musste. Also blieb ich stehen, lehnte mich an die Hauswand hinter mir und wollte gerade anfangen, loszuschluchzen und mich über meine eigene Blödheit ärgern, als wie aus dem Nichts mein Onkel angeradelt kam und mich fragte, was denn los sei. Ich wischte mir hastig die Tränen aus meinem Gesicht und sagte ehrlich, dass ich mich verlaufen hatte. Er grinste mich breit an und kommentierte ein: “Typisch für dich!” Schließlich stieg er von seinem Fahrrad ab und wir liefen zusammen Richtung Hängebrücke und verließen Torgau…

Dann erwachte ich aus meinem Traum, schlug die Augen auf und befand mich mitten in meinem Schlafzimmer in meinem Bett. Ich warf einen Blick zum Fenster, es war rechteckig, nicht rund. Und auch die Hängebrücke war vor dem Fenster verschwunden, ebenso wie der venediger See und die kleinen Boote… Nichts von all dem war passiert. Ich hatte alles nur geträumt…

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