Feather, Sword & Blood

Per -_Night

41.4K 4.3K 328

Im letzten Jahrhundert hat sich die Welt verändert. Eine Genmutation brachte neben den Menschen weitere Spezi... Més

Widmung
Grades de l'Ailés
Teil 1
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Teil 2
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Einundfünzig
Zweiundfünfzig
Dreiundfünfzig
Vierundfünfzig
Fünfundfünfzig
Sechundfünzig
Siebenundfünfzig
Achtundfünfzig
Neunundfünfzig
Sechzig
Einundsechzig
Zweiundsechzig
Dreiundsechzig
Vierundsechzig
Teil 3
Sechsundsechzig
Siebenundsechzig
Achtundsechzig
Neunundsechzig
Siebzig
Einundsiebzig
Zweiundsiebzig
Dreiundsiebzig
Vierundsiebzig
Fünfundsiebzig
Sechsundsiebzig
Siebenundsiebzig
Achtundsiebzig
Neunundsiebzig
Achtzig
Einundachtzig
Zweiundachtzig
Dreiundachtzig
Vierundachtzig
Fünfundachtzig
Sechsundachtzig
Siebenundachtzig
Achtundachtzig
Neunundachtzig
Neunzig
Einundneunzig
Zweiundneunzig
Dreiundneunzig
Vierundneunzig
Fünfundneunzig
Sechsundneunzig
Siebenundneunzig
Achtundneunzig
Neunundneunzig

Fünfundsechzig

375 40 0
Per -_Night

Unmöglich. Es war absolut unmöglich. Jacob war tot. Eine Mutation hatte ihn weggeschleift, nachdem ein Nigreos ihm in die Brust geschossen hatte. Seine Flügel waren zusammen mit dem getöteten Schützen zu Asche verbrannt worden. Zweifellos waren es seine Schwingen gewesen, die an dem Rücken unseres Angreifers festgenäht worden waren. Und doch stand er jetzt vor mir.
 
Ich brachte keinen einzigen Ton heraus. Ich stand einfach da und starrte ihn an. Zu mehr war ich nicht fähig. Obwohl mein Hirn noch zweifelte, wusste mein Herz bereits, dass ich tatsächlich meinen großen Bruder vor mir hatte.

Auf der einen Seite hatte er sich verändert, auf der anderen Seite wieder nicht. Er war älter geworden, natürlich, und der Bart war neu. Seine Augen hingegen waren die gleichen wie früher. Wenn ich ihn ansah, hatte ich noch immer das Gefühl in die Augen meines Vaters zu blicken. Feine Fältchen hatten sich an deren Rändern gebildet, die ihn nicht nur reifer, sondern noch liebenswerter wirken ließen. Doch soweit ich mich erinnern konnte, waren seine Haare braun gewesen und nicht rot... oder?
 
„Ich bin es wirklich, Aria", sagte Lex jetzt mit seltsam dumpfer Stimme. Seine Lippen verzogen sich zu seinem typischen Große-Bruder-Lächeln, was mich letztendlich dazu brachte mich aus meiner Starre zu reißen.

Zum zweiten Mal landete mein Schwert im Matsch und ich überbrückte den Abstand zwischen uns mit wenigen Schritten. Bevor ich mir jedoch Sorgen machen konnte wie er wohl reagieren würde, hatte er bereits seine Arme um mich geschlungen und zog mich in eine feste Umarmung.

Er jetzt, wo ich ihn berührte, war ich mir hundertprozentig sicher, dass ich ihn mir nicht nur einbildete und das war der Moment, in dem meine Dämme endgültig brachen. Glück flutete meinen Körper und die Erleichterung war so überwältigend, dass ich aufschluchzte. Als hätte ich Angst, dass ihn mir jemand sofort wieder entreißen könnte, klammerte ich mich an ihn und drückte mein Gesicht gegen seine Brust.
 
Ich konnte gar nicht in Worte fassen wie sehr ich ihn vermisst hatte. Alles an ihm. Sein Lächeln, seine Stimme, sein Geruch. Obwohl er mit Schlamm, Ruß und Blut überseht war und sich der Rauch in seiner Kleidung festgebissen hatte, roch er noch immer nach Zuhause.

Ich hatte meinen großen Bruder zurück; meine Familie. Ich war nicht mehr alleine.

Diese Erkenntnis war so überwältigend, dass meine Beine unter mir nachgaben. Doch anstatt mich aufzufangen, sank Jacob mit mir auf den Boden. Sein Atem fiel auf mein klatschnasses Haar und er umgab mich wie ein Schutzschild.

„Du kannst dir nicht vorstellen wie sehr ich dich vermisst habe, kleine Schwester."

Seine Stimme war endgültig gebrochen, woran ich merkte, dass er ebenfalls weinen musste. Seine Worte löste eine weitere Tränenflut aus, weshalb ich nicht antworten konnte. Doch ich fand es ohnehin überflüssig ihm zu erzählen, dass es mir genauso gegangen war.
 
Ich konnte nicht sagen wie lange ich mich an ihn klammerte und wie ein kleines Kind heulte, aber irgendwann schaffte ich es mich wieder einzukriegen.

Ich löste mich von ihm und sah ihn an. „Deine Haare", lachte ich. Noch immer liefen mir Tränen über die Wangen, die ich einfach nicht stoppen konnte. „Sie sind rot." Soweit ich mich erinnern konnte, waren sie früher braun gewesen und er hatte sie gehasst, weil er sie von unserer Mutter geerbt hatte.

Er lächelte. „Ja. Hat lange gebraucht, aber letztlich komme ich wohl doch nach Dad. So wie du."
 
Schließlich erhoben wir uns wieder, er schaffte es jedoch kaum seinen Blick von mir abzuwenden. „Meine kleine Schwester ist eine Ailée", seufzte er stolz und wischte mir eine nasse Strähne aus dem Gesicht.

Wieder zog sich meine Brust zusammen. Es war das, was ich mir die ganze Zeit über gewünscht hatte. Dass er sah, was aus mir geworden war; was ich aus mir gemacht hatte.

Dann fiel sein Blick zu meinem Oberarm, in dem der Schnitte klaffte. „Alles in Ordnung?"

Ich schenkte der Wunde nicht einmal einen Blick und nickte. Es war alles in Ordnung. Das erste Mal seit fünf Jahren.
 
Dann schien sich Lex daran zu erinnern, dass es noch mehr Personen um uns herum gab und drehte sich zu den anderen um.

Jules stützte Benson, dem Lex jetzt die Hand gab. „Benson, richtig? Jules Bruder? Ich bin Lex."

„Schon klar", grinste Ben und schüttelte sie. Er wirkte müde, was ich ihm nicht verdenken konnte.

Auch Jules begrüßte seinen ehemaligen Kameraden mit einem Handschlag. „Schön, dass du nicht tot bist, man."

„Finde ich auch."
 
Zum Schluss wandte er sich an Caden. Der sah ihn mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an.

„Hey, Kumpel. Ist lange her", meinte Jacob etwas schüchtern.

Ich konnte beim besten Willen nicht ahnen wie sein ehemals bester Freund reagieren würde. War er erleichtert? Bestimmt. Allerdings hatte er auch allen Grund sauer zu sein. Immerhin hatte Lex seinen Kameraden im Glauben gelassen dabei zugesehen zu haben wie er gestorben war. Ganz ehrlich? Ich könnte es sogar verstehen wenn er ihn jetzt anbrüllte. Im Moment war ich nur zu erleichtert, um wütend zu sein.

Tatsächlich spannte sich der Kiefer des Sergents an. Doch dann trat er plötzlich vor und umarmte meinen Bruder fest. Es war die gefühlsbetonteste Geste, die ich jemals bei Caden Milani gesehen hatte, aber wahrscheinlich galt das für mich genauso. Ich hatte es immer noch nicht geschafft mit dem Heulen aufzuhören. Glücklicherweise regnete es weiterhin wie aus Eimern, weshalb es nicht so auffiel.
 
Nachdem die beiden Männer einander wieder losgelassen hatten, wechselten sie kurz ein paar Worte, dann drehten sie sich zu uns um.

„Wir müssen hier weg", erinnerte uns Lex an unsere Lage.

Hinter uns brannte die Hütte noch immer. Das Feuer verschlang das Holz so hungrig, dass der Regen ihm kaum etwas ausmachte. Von innen heraus fraß es die kleine Hütte auf und war dabei so unerbittlich, dass am Ende nur noch die Grundmauern übrig bleiben würden. Davor lagen die toten Nigreos, deren Blut sich mit dem aufgeweichten Ackerboden mischte.

„Ich nehme mal an, Cielo ist tot?"

Wir nickten.

„Dann wäre es besser, wenn wir heute Nacht untertauchen und morgen so schnell wie möglich verschwinden. Die Nigreos werden nicht gerade glücklich darüber sein, dass ihr Waffenschmied tot ist und ich kann mir vorstellen, dass sie nach uns suchen werden."
 
„Und wo?", fragte Caden und schob sein Schwert zurück in die Scheide.

Auch ich hob meine Waffe auf, dann ging ich zu der Nigreos mit dem Dolch im Hals, zerrte ihn heraus und sammelte die Pistole auf.

Lex beobachtete mich dabei. „Ich kenne hier in der Nähe ein Versteck, in dem wir die Nacht verbringen können. Morgen sollten wir dann so schnell wie möglich verschwinden."

„Wir wollten ohnehin zurück ins Lager reiten", meinte Caden, fing den Dolch auf, den ich ihm zuwarf, wischte die Klinge an seiner Hose ab und steckte sie zurück in die Lederschlaufe an seinem Bracelet, „Wir sind jetzt seit fast zwei Monaten unterwegs. Was meinst du? Zurück nach Hause?"

Jacob lächelte und legte mir einen Arm um die Schulter als ich neben ihn trat. „Ich könnte mir nichts schöneres vorstellen."
 
Unsere Pferde fanden wir am Waldrand, wo sie sich ziellos zwischen den Bäumen herumtrieben. Die Nigreos hatten sie entweder fortgejagt oder sie waren wegen des Feuers geflohen, aber um das Weite zu suchen, waren sie zu anhänglich.

Das beste Beispiel dafür lieferte Jacobs Hengst Cassian, der auf einen Pfiff seines Herren hin angetrabt kam. Fröhlich schüttelte der braun-weiße Schecke seinen Kopf und begrüßte erst Caden, dann mich.

„Ich glaub's nicht", lachte Milani, „Ich dachte, eines dieser Biester hat ihn erwischt, weil er nach dem Angriff wie vom Erdboden verschluckt war."

Lex, der gerade Jules half Benson in den Sattel zu wuchten, schüttelte den Kopf. „Dieser kleiner Trottel hier ist mir gefolgt und nachdem... Er hat mich auf jeden Fall gefunden."

Ich wusste, das der Grund seines Zögern mit dem zutun hatte, was ihm zugestoßen sein musste, jedoch traute ich mich nicht nachzufragen. Noch nicht.
 
Leil war in der Zwischenzeit ebenfalls angetrottet gekommen und stand jetzt hinter mir. Seinen Kopf hatte er neben meinem platziert und ließ sich von mir hinter dem Ohr kraulen, während ich meinen Bruder nicht aus den Augen ließ. Ich wusste, es war lächerlich, aber ich fürchtete, dass er sich jederzeit einfach in Luft auflösen könnte.

Als sein Blick auf Leil fiel, verzog sich sein Mund ein weiteres Mal zu einem Lächeln. Wie ich das vermisst hatte. Nach Vaters Tod war er der einzige, der es schaffte auf diese eine besondere Art zu lächeln.

„Das war Dads Geschenk zur Aufnahme in den Orden, oder?"

Ich nickte und neigte ein wenig den Kopf, weil der Rappe auf die dumme Idee gekommen war an meiner roten Haarsträhne knabbern zu wollen. „Woher wusstet ihr damals, dass ich..."

Er zuckte mit den Schultern. „Dad hatte da so eine Ahnung."

Ich wollte nachhaken, doch in diesem Moment zuckte sein Blick in Richtung der Hütte. Sogar aus dieser Entfernung hörten wir wie die tragenden Balken knarzten und unter dem Gewicht des Daches nachzugeben drohten. Lange würde es nicht mehr dauern bis der Brand bemerkt werden würde.

„Wir sollten uns beeilen." Damit schwang er sich auf Cassians Rücken und wir taten es ihm nach. Für noch einen Kampf hatte ich beim besten Willen nicht die Kraft.
 
Während wir meinem Bruder nach Süden folgten, musterte ich ihn. Sein Umhang wirkte angewetzt, sein Haar wirr und zu lang. Von der Uniform der Ailés war ebenfalls nicht mehr übrig als der Gürtel, an dem zwei einfache Eisenschwerter hingen. Seine Füße steckten in ausgelatschten Stiefeln, seine Leinenhose war mehrfach geflickt worden und soweit ich das erkennen konnte, trug er unter dem Umhang einen groben Wollpullover. In den letzten Jahren schien er nicht gerade wie ein König gelebt zu haben. Mehr wie ein Aussätziger. Doch am meisten Sorgen machte mir die Tatsache, dass sich unter seinen Klamotten keine Flügel abzeichneten. Eine schlimme Ahnung stieg in mir auf, jedoch verdrängte ich sie.
 
Eine knappe Viertelstunde lang ritten wir mit gebührenden Abstand am Rande der Stadt entlang, bis wir einen blassen Trampelpfad in Richtung Waldrand einschlugen. Der Regen hatte etwas nachgelassen, trotzdem war der Himmel so voller Wolken, dass es schien als würde es bereits dämmern. Wenige Minuten später tauchte eine alte Scheune vor uns auf. Sie lag etwas verborgen zwischen ein paar Bäumen und schien einmal zu einem alten Gutshof gehört zu haben.
 
Lex sprang von Cassians Rücken und zog das Scheunentor auf. „Hereinspaziert", meinte er mit einer ausladenden Handbewegung, „Hier sind wir fürs Erste sicher. In den letzten Jahren war ich öfter hier. Als Toter kann man schließlich nicht bei Ausgestoßenen unterkommen."

Er sagte das leichthin, ich hingegen fand das überhaupt nicht lustig. Nicht nur, weil er von sich selbst noch immer als Toter sprach, sondern weil mir die klapprige Scheue einen Einblick in das Leben gab, das er die letzten Jahre geführt haben musste. Die zusammengerollte Decke und die alten Taschen, die an seinem Sattel festgemacht waren, verrieten mir, dass seine Gewohnheiten sich nicht geändert hatten. Noch immer reiste er wie ein Ailé. Der Unterschied war nur, dass er am Ende eines Tages keinen Unterschlupf gewährt bekam und vermutlich öfter im Freien hatte schlafen oder sich eine Alternative zu den kuscheligen Häusern der Ausgestoßenen hatte suchen müssen.
 
Doch als wir die Scheune betraten, war ich überrascht wie trocken sie war. Wir führten die Pferde hinein und brachten sie in einer Ecke unter. Nachdem wir sie abgesattelt und sie sich ausführlich das Wasser aus dem Fell geschüttelt hatten, begnügten sie sich mit dem Heu, das dort herumlag.

Lex hatte in der Zwischenzeit ein Versteck unter einem Haufen Stroh freigelegt, in dem einige Steine, eine Öllampe und Büchsen herumlagen, die mir verdächtig nach Dosenfutter aussahen. Mein Bruder räumte die Steine in die Mitte der Scheune, fegte etwas Stroh vom Boden und legte damit eine ausgebrannte Feuerstelle frei, worum er die Steine anordnete.

Benson verzog das Gesicht. „Du willst hier drinnen ein Feuer anmachen? Ich wäre heute schon einmal fast an einer Rauchvergiftung gestorben und habe nicht unbedingt vor das so schnell zu wiederholen. Ist nicht so lustig wie es sich anhört."

„Keine Sorge", beschwichtigte mein Bruder ihn, „Die Scheune ist groß genug und hat genug Löcher, damit der Rauch abziehen kann. Wir müssen uns wärmen und aus den nassen Sachen raus, sonst werden sogar Ailés krank. Eine Lungenentzündung ist auch nicht gerade lustig, glaub mir."
 
Er hatte recht. Wir waren bis auf die Knochen durchnässt und tropften noch immer.

Wortlos kramten wir unsere Wechselkleidung hervor und begannen uns umzuziehen. Ich schlüpfte in den Hoodie und ignorierte die Tatsache, dass ihn Caden mir damals überlassen hatte. Meinen Schnitt verband ich provisorisch mit einem sauberen Stoffstreifen, den mir Jules überlassen hatte und den ich mit den Zähnen an meinem Oberarm festzog. Im Gegensatz zu moderner Technologie hatte Hepatitis die Kriege überlegt und selbst die ausgereiften Selbstheilung der Ailè hatte dagegen keine Chance. Der Zweiundzwanzigjährige hatte genug Erfahrung, um Verbandzeugs vorsorglich einzupacken und ich beschloss, dass ich das ebenfalls tun würde, wenn wir zurück im Lager waren.
 
Danach wrang ich meine Haare aus und legte mir die Decke um die Schultern. Die Jungs hatten in der Zwischenzeit Schlafstätten aus Stroh gebaut und das Feuer entzündet. Ich zwang mich meine Abneigung gegen die Flammen zu überwinden und setzte mich so nah wie möglich an die Feuerstelle. Erst als die Wärme auf meine Haut traf, merkte ich wie eiskalt sie war. Nicht zum ersten Mal war ich froh über die dickere Haut der Ailés. Menschen hätten sich zumindest eine Unterkühlung zugezogen.

Auch Caden kauerte sich an das Lagerfeuer, nur Benson ließ sich nicht dazu überreden. Er hielt gebührlichen Abstand, während er sich auf seinem Strohbett zusammenrollte und unter die Decke verkroch. Er war erschöpft und musste sich ausruhen. Es würde wohl noch ein paar Tage dauern bis er wieder fit war, aber das war nach der Sache heute kein Wunder. Jules leistete ihm Gesellschaft und schon nach wenigen Minuten waren die beiden eingeschlafen.

Auch ich war müde, allerdings zitterte ich noch zu sehr als dass ich an Schlaf denken könnte. So kam es, dass ich mit Caden und Lex am Feuer saß und meine Flügel wie eine zweite Decke um mich schlang. Jacob hatte drei der Dosen in die Glut gestellt und ließ sie gerade von Caden mit seinem Dolch öffnen. Eine davon reichte er mir, doch ich lehnte ab.

„Du musst etwas essen, Aria."

„Keine halbe Stunde weilst du wieder unter den Lebenden und schon lässt du wieder den großen Bruder raushängen", schmunzelte ich.

„Sag nicht, dass dir das nicht gefehlt hat."

„Doch, schon", gab ich zu und nahm die Dose an. Eine glibberige Masse schwappte darin herum, die man mit viel Wohlwollen als Bohneneintopf bezeichnen könnte. Ich führte die Blechdose an die Lippen und probierte. Es schmeckte auf jeden Fall besser als es aussah. Mit dem Essen, das einem Madame Bonnet vorsetzte, konnte man es jedoch nicht mal ansatzweise vergleichen.

Eine Weile saßen wir da und aßen schweigend.

Schließlich war es Caden, der die entscheidende Frage stelle: „Was ist passiert, Lex? Warum bist du nicht zurückgekommen?"

Ich umklammerte meine Dose fester. Ich war schlicht zu feige gewesen, um zu fragen, jetzt hatte ich Angst vor der Antwort. Ich wusste, es war dumm es überhaupt in Betracht zu ziehen, aber ich fürchtete mich davor, dass es an mir gelegen haben könnte.

Mein Bruder starrte für einen Moment unbeweglich in die Flammen. Ich sah ihm an wie ungern er über dieses Thema sprach, gleichzeitig musste ihm klar gewesen sein, dass es irgendwann jemand ansprechen würde und er uns die Antwort mehr als schuldig war.

„Es tut mir leid, dass ich mich nie gemeldet habe", begann er schließlich und sah dabei ziemlich zerknirscht aus, „Ich kann mir nicht vorstellen, was ihr wegen mir durchmachen musstet und ihr müsst mir glauben, dass ich das nicht wollte. Aber nach diesem Angriff war mir klar, dass etwas nicht stimmt. Bei unserem vorherigen Auftrag bin ich zufällig auf Cielo Knox und seine Waffenschmiede gestoßen und wusste, dass da mehr dahinter steckte."

„Inwiefern?", hakte Caden nach.

„Die Nigreos sind wesentlich besser organisiert als der Orden oder die Wächter ahnen. In den letzten Jahren hat sich die Gruppe radikalisiert. Zwar sind sie der Meinung, dass die Ailés die überlegene Rasse sind, aber sie denken, dass sie ihre Macht nicht nutzen. Sie halten den Orden für schwach, weil er sich um Frieden bemüht, statt sich die Menschen und die schwächeren Limbs untertan zu machen. Deshalb haben sie die Sache selbst in die Hand genommen und begonnen eine Armee aufzubauen."

Er stocherte mit einem Stock in der Glut herum.

„Seit sie Knox zwingen moderne Schusswaffen für sie herzustellen, sind sie zu einer ernsten Gefahr geworden. Jemand musste etwas gegen sie unternehmen und als alle dachten, dass ich tot sei, habe ich meine Chance genutzt. Die letzten fünf Jahre habe ich damit verbracht, sie zu beobachten und alles über sie in Erfahrung zu bringen."

„Niemand verdächtig einen Toten als Spion", murmelte ich. Obwohl ich immer noch keinen Hunger hatte, aß ich einen weiteren Schluck des Eintopfes. Die heißen Bohnen wärmten mich von innen und vertrieben zumindest einen Teil der eisigen Kälte.

Lex nickte. „Wie gesagt, es tut mir leid."

Verstand ich es? Nein, sicher nicht. Seine Entschuldigung schien mir aus irgendeinem Grund zu wenig, aber ich sagte nichts. Wie Ameisen, die aus ihrem Bau getrieben wurden, begann Wut in mir zu kribbeln, aber noch hielt die Erleichterung sie zurück. Es fühlte sich einfach falsch an wütend auf meinen Bruder zu sein, wo ich mir doch die letzten fünf Jahre nichts sehnlicher gewünscht habe als ihn noch einmal vor mir zu haben. Doch ich wusste, dass ich mich irgendwann mit diesem Gefühl auseinandersetzen müssen würde. Irgendwann, nicht heute.

Caden gab sich mit seiner Erzählung jedoch noch nicht zufrieden. „Aber der Angriff. Ich habe gesehen wie du erschossen wurdest."

„Angeschossen", verbesserte Lex ihn und zog den Kragen seines Pullovers nach unten, damit wir die Narbe auf seiner Brust sehen konnten, „Du müsstest dich ja damit auskennen, Milani."

Ich verstand die Anspielung sofort. „Das im Wald warst du", erkannte ich, „Du hast uns gerettet, indem du die Nigreos mit der Pistole mit den Pfeilen vertrieben hast."

Schulterzuckend kratzte er die letzten Reste aus seiner Dose. „Ich habe mir deinen Bogen kurz ausgeliehen, leider bin ich nicht so eine begnadete Schützin wie du. Übrigens hat dein Pferd mich damals fast gebissen."

„Aber die Mutation damals hat dich verschleppt und wir haben..." Caden schluckte.

Lex schien zu wissen, worauf er hinaus wollte, denn seine Miene bekam einen gequälten Ausdruck. Außerdem loderte das erste Mal Zorn in seinen Augen auf. „Die Nigreos sind absolut krank. Diese Wahnsinnigen nähen sich die Flügel von gefallenen Ailés an, um ebenfalls der in ihren Augen reinsten Rasse anzugehören. Ihre Schoßhündchen haben uns verschleppt und..." Er brach ab und presste die Lippen aufeinander.

Dann stand er auf und zog sich kurzerhand den Pullover über den Kopf. Mein Blick fiel auf seine hervorstehenden Rippen, dann drehte er sich um. Caden und mir verschlug es gleichzeitig den Atem. Über seinen Rücken, genau an der Stelle, wo sich normalerweise der Ansatz der Flügel befand, zogen sich zwei parallele Narben.

Wieder drohten mir die Tränen zu kommen, aber ich schluckte sie herunter. Diese verfluchten Bastarde hatten ihm die Flügel abgeschnitten. Und nicht nur das. Dem ausgefransten Narbengewebe zu urteilen, hatten sie förmlich in seinem Rücken herumgestochert, um die Schwingen mit sämtlichen Nervenden und Muskeln zu entfernen. Wie bei der Ailée, die vor einigen Jahren von einer der Mutation getötet worden war.

„Als sie fertig waren, habe sie mich einfach liegen lassen", erzählte Lex mit brüchiger Stimme, „Sie dachten, ich wäre tot und tatsächlich war ich kurz davor. Eine Lyncas aus dieser Stadt hat mich damals gefunden und gesund gepflegt." Er zog sich den Pullover wieder an und setzte sich zurück auf seinen Platz.

Ich stellte die Dose weg. Jeglicher Appetit war mir vergangen. Wie konnte man nur so grausam sein? Wie kam man überhaupt auf die Idee so etwas zu tun? Jacob hatte recht. Die Nigreos waren vollkommen krank. Ich konnte mir nicht vorstellen, was mein Bruder hatte durchmachen müssen. Seine Flügel waren der größte Stolz eines Ailés. Von den körperlichen Schmerzen mal abgesehen, war es sicher nicht einfach gewesen akzeptieren zu müssen, dass man einen Teil seiner selbst verloren hatte.

Wortlos griff ich nach Lex Hand und drückte sie.

Er lächelte schwach und räusperte sich dann. „Die Lyncas hat mich bei sich wohnen lassen, mir geholfen wieder auf die Beine zu kommen und meine Ängste zu überwinden. Als ich wieder gesund war, wollte ich noch ein wenig bleiben, um ihr zu helfen. Ich tat alles, um meine Schuld zu begleichen, selbst wenn ich wusste, dass ich das vermutlich niemals schaffen würde."

Sein Blick wurde für einen Moment leer. Die Erinnerungen schienen ihn zu quälen, so wie die Erinnerungen an ihn damals mich gequält hatten.

„An einem Abend war ich unterwegs, um etwas für sie zu besorgen. Als ich zurück kam, war sie tot. Umgebracht von Nigreos, die zufällig in der Stadt waren. Bis heute weiß ich nicht, warum sie es getan haben. Sie wussten nichts von mir, aber vermutlich hat sie sich ihnen in den Weg gestellt. Das war ihr Tod..."

Er senkte den Kopf und gedachte einen Moment seiner Wohltäterin. Ich tat das gleiche. Stumm dankte ich ihr, dass sie mir meinen Bruder zurückgebracht hatte.

Caden schwieg verbissen und bereute vermutlich gefragt zu haben. Genau wie mir stand ihm der Schock ins Gesicht geschrieben und wir beide würden wohl noch eine Weile brauchen, bis wir damit zurecht kamen.

Schließlich war es Lex, der wieder das Wort ergriff. Die Wolke, die gerade eben noch über seiner Stirn gehangen hatte, war wieder verschwunden. Es war eines der Dinge, für die ich ihn so liebte. Selbst wenn alles um einen herum zusammenzubrechen drohte, schaffte es Jacob noch zu lächeln.

„Wir sollten schlafen. Es war sicher ein langer Tag."

Er beugte sich zu mir und küsste mich auf den Scheitel. „Gute Nacht, kleine Schwester", flüsterte er.

Obwohl wir in einer löchrigen Scheune saßen, hatte ich zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder das Gefühl Zuhause zu sein.

Continua llegint

You'll Also Like

70.3K 4.1K 27
"Abigail du kannst sehen", so hatte Abbys Großmutter es einige Stunden vor ihrem Tod ausgedrückt. Seit dem Ableben ihrer Großmutter sieht Abby Geist...
648K 57.6K 188
Mutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia sein, ehe das Experiment nach hinten losgi...
107K 7.3K 36
Rayna wächst bei ihrem Vater auf, einem vom Magischen Rat gesuchten Magier. Eines Tages wird sie durch eine Verkettung von Zufällen in die "Academy"...
3.4K 442 30
Die neunzehnjährige Schaustellerin Cinna lebt in der Megacity Tremoris, einem gigantischen unterirdischen Tunnelsystem, das Millionen von Menschen be...