Eleanor Rigby

By agustofwind

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❝All the lonely people, where do they all come from?❞ Eine Kurzgeschichte über drei Begegnungen, die Harry fe... More

ALL THE LONELY PEOPLE
II. SOMMER
III. HERBST
IV. EIN DREIVIERTELJAHR
WHERE DO THEY ALL BELONG?

I. FRÜHLING

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By agustofwind

Es liegt eine Wehmut in der Luft, die er sich nicht erklären kann. Ein stählerner Geruch hat sich auf die Straße gelegt, aber der Himmel über ihm ist klar.

Der Gehweg unter seinen Füßen drückt gegen seine Schuhsohlen, als wollte er sich gegen ihn erheben und ihn von der Straße abdrängen. Jeder Schritt fühlt sich falsch an, und obwohl er zügig vorankommt, hat er das Gefühl, sich dabei aufzulösen, an den Rändern und Ecken, wie eine alte Fotografie. Es ist ein schreckliches Gefühl.

Er ist wohl in einem verschlafenen Vorort irgendeiner Stadt, die er wahrscheinlich kennen sollte. Graue Häuserreihen ziehen sich zu seiner Rechten die Straße entlang, blinde Scheiben und geschlossene Fensterläden bestimmen die Fassade. Es kommt ihm so bekannt vor. Aber Namen findet er keine in seinem Kopf. Alles ist leer.

Bäume flankieren die Straße auf der linken Seite, und ihm wird bewusst, dass nur ein rauchgrauer Zaun ihn von einem Friedhof trennt. Die grünen Triebe auf den Eichen lassen ihn innehalten und ihren Duft einziehen. Das Stählerne verschwindet kurz. Und schon blitzt etwas in seinen Gedanken auf, ein Bild und ein Name. Harry. Harry Styles.

Das ist er.

Er ist so sicher und sofort beginnt sein Puls zu jagen. Er ist Harry Styles. Obwohl die Straße ihn immer noch absorbieren möchte, fühlt er sich plötzlich ein bisschen leichter.

Er beginnt, seine Hände zu begutachten. Mehrere Ringe stecken an seinen Fingern, silber, manche schlicht, andere fast dekadent. Außerdem trägt er einen schwarzen Mantel und eine rotes Hemd, dessen obere Knöpfe nachlässig geöffnet sind. Schwarze Tinte befleckt seine Haut und er erkennt die Schwingen eines Schmetterlings, wie auch zwei Schwalben knapp unter seinem Schlüsselbein. Er kann sich nicht daran erinnern, wie sie auf seine Haut gekommen sind. Sein Verstand ist wie leer gefegt, und je verzweifelter er versucht, an einer Erinnerung festzuhalten, desto stärker beginnt sein Kopf zu pochen. Ein scharfer Schmerz schießt durch seine Stirn und er muss sich am Zaun festhalten, bevor er zu Boden geht.

Noch immer ist er allein. Kein Bewohner dieser Geisterstadt hat sich vor die Tür gewagt, kein einziges Auto ist zu sehen.

Er will auf den Friedhof. Der Duft der keimenden Bäume scheint seine Erinnerung zu stimulieren. Er braucht mehr davon. Warum ist er hier? Was ist geschehen? Und vor allem, wer ist er?

Wie durch Zufall findet er den Eingang; ein schmales Tor inmitten der Hecke, das lediglich angelehnt ist. Seine Finger krallen sich um das Metall und er schiebt das Tor auf. Dann steht er auf dem feuchten Erdboden, der nicht gegen ihn anzukämpfen scheint. Er kann sich bewegen, ohne, dass er glaubt zu vergehen.

Seine Schritte führen ihn immer tiefer zwischen die Grabreihen, in denen er keinen einzigen Namen kennt. Das Gras unter seinen Füßen küsst die Spitzen seiner Stiefel und sein Herzschlag beruhigt sich langsam wieder. Hin und wieder bleibt er stehen und seine Finger streichen über einen der Grabsteine. Sie sind wärmer, als er erwartet hat. Oder ist nur er selbst so kalt?

In der Mitte des Friedhofes ragt eine riesige Eiche aus dem Boden. Ihr Stamm ist bemoost und wirkt älter, als die Stadt um sie herum. Breite Äste entspringen dem holzigen Körper des Baums und scheinen den gesamten Friedhof beschützen zu wollen. Auch hier haben sich grünende Triebe ausgebildet.

Zuerst bemerkt er ihn gar nicht. Er verschwimmt vor dem Dunkel der Eiche in seiner schwarzen Uniform zu einem Trugbild, das sich erst auflöst, als er ein paar Schritte nach vorne macht.

Ein Reverend steht vor einem ausgehobenen Grab und hält einen Sermon, den niemand zu hören scheint, denn er ist allein. In der Ferne haben sich zwei Friedhofsgräber auf ihre Schaufeln gestützt und warten auf das Ende, aber er ist sich sicher, dass sie nicht hören.

Langsam geht er zwischen den Grabreihen hindurch, seine Schritte knirschen nicht auf dem Kies, obwohl sie es sollten. Und doch dreht der Reverend sich um, als er nahe genug ist.

„Kommen Sie näher", sagt der Pfarrer, als er ihn unschlüssig in der letzten Grabreihe verharren sieht, seine Füße halb über die Linie, die ihn zu einem Angehörigen machen. „Sie wird sich freuen."

Also setzt er einen Schritt vor den anderen, langsam und irgendwie so, als täte er etwas Verbotenes. Bald steht er vor dem ausgehobenen Grab, in das ein weißer, schlichter Sarg gesenkt wurde. Das Holzkreuz, das über dem dunklen Abgrund thront, weist einen Namen auf: Eleanor Rigby.

Er kennt ihn nicht, diesen Namen.

Eleanor Rigby, 1928 – 2017

Eine perfekte Fremde.

Der Priester hat seinen Sermon inzwischen wieder aufgenommen, aber er befindet sich bereit an seinem Schluss. „Eleanor, meine Teuerste, du warst das Beste, das meiner Kirche jemals geschehen ist. Du warst rein, und gut, und edel—ich werde niemals vergessen, wie du für mich nach den Hochzeiten jedes Mal den Reis vom Boden aufgesammelt hast."

Er bleibt neben dem Reverend stehen und sieht auf den weißen Sarg, der statisch in der Erde verankert ist. Er kennt sie nicht, aber sein Herz schmerzt fürchterlich. Nur der Priester ist hier. Und niemand sonst hat sich die Mühe gemacht, das Begräbnis einer alten, einsamen Frau zu besuchen.

„Mit sechsundsechzig kamst du zu uns und hast nie ein Wort über dein früheres Leben verloren und so wusste ich von niemanden, den ich für diesen Tag einladen konnte. Aber vermutlich hätte es dir nichts ausgemacht. Und sieh mal, jemand hat sich zu uns verirrt."

Er fühlt sich immer schlechter. Ein brodelndes Gefühl der Angst macht sich in ihm breit. Es dauert, bis er versteht, warum er sich so fürchtet. Er möchte nicht so einsam sein. Er möchte nicht vergessen werden.

„Ruhe in Frieden, Eleanor Rigby", schließt der Reverend ab und sein Gast wiederholt die Worte, ohne sich deren wahrer Bedeutung bewusst zu sein. Ein wenig Erde wird auf den Sarg verteilt, als der Reverend eine Handvoll davon in den Abgrund wirft. Er hält ihm die Schale hin und seine Finger graben sich tief in das Schwarz, das erstaunlich weich ist.

Dann treten sie von dem Grab weg und erweisen der unbekannten Frau die letzte Ehre. Der Pfarrer schweigt kurz, scheint sich zu besinnen, dann: „Du siehst verloren aus, mein Sohn."

Er kann nur nicken. Der Reverend seufzt und legt einen Arm um ihn, bevor er ihn vom Grab fort geleitet. Die Friedhofsgräber kommen mit ihren Schaufeln langsam auf die letzte Ruhestätte der Frau zu, warten, bis die beiden Gäste außer Sichtweite sind.

Sein Herz scheint ihm fast aus der Brust zu springen. So alleine. In Leben wie in Tod.

„Wie heißt du, mein Sohn?"

„Ich bin nicht sicher", kann er nur sagen. „Harry, glaube ich."

Ein anderer Name drängt sich in seinen Sinn, aber er ist wieder verschwunden, bevor er nach ihm greifen kann. Kürzer als sein eigener ist er. Weicher.

„Gott behütet dich, Harry", sagt der Reverend, und bei ihm klingt es nicht wie eine leere Worthülse, die er gewohnt ist, jeden Sonntag zu hören. Er muss wohl oft in der Kirche gewesen sein, wenn er sich daran erinnert. „Du bist niemals wirklich alleine. Eleanor Rigby war es auch nicht."

Er möchte sagen, dass es ihm Leid tut. Dass die alte Frau so einsam gelebt haben muss, dass nur der Pfarrer zu ihrer Beerdigung erscheint, aber seine Worte wollen seinem Mund nicht entfliehen. Er hält sie zurück, und das unheimliche Gefühl will sich wieder in seine Bewusstseinsebene zurückdrängen. Beinahe ist ihm, als höre er Musik. Zarte Geigenklänge, die den Friedhof erfüllen; aber der Reverend zieht ihn weiter auf den Ausgang zu, auf eine größere Pforte, als die, die er genommen hat. Sie führt zu einer Kirche.

„Hatte sie keine Familie?", hört er sich fragen. Der Reverend lässt ihn los, richtet den Kragen seines Hemdes und sieht ihn ernst an. Als er den Mund öffnet, hört er jedoch nur ein Rauschen, und seine Sicht verschwimmt. Der Reverend hält ihn fest, bevor er zu Boden sinken kann. Das schreckliche Gefühl des Sich-Auflösen kehrt zurück, aber der Pfarrer stützt den jungen Mann mit all seiner Kraft und trägt ihn zu der kleinen Bank vor der Kirche. Der Himmel ist bewölkt und ein Wind scheint zu gehen, und doch ist ihm nicht kalt.

„Du gehörst nicht in diese Welt", sagt der Reverend, und der junge Mann kann nicht fragen, was er meint. Sein Mund gehorcht ihm nicht. Der Pfarrer verschwindet kurz, und er wähnt sich schon in Einsamkeit. Aber bald kehrt er zurück, ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit in der Hand.

„Hier, mein Junge", sagt er. „Löwenzahnsaft." Er lässt sich neben ihn auf die Bank sinken und beide sehen sie, geschützt von dem Kirchturm über ihnen, auf den Friedhof und den Kirchgarten, die sich in zarten Grün vor der Bank erstrecken.

Als ein Auto vorbeifährt, runzelt der junge Mann kurz die Stirn. Etwas sieht anders aus, aber er kann es nicht recht sagen. So, als hätte er diese Maschinen anders in Erinnerung.

„Mein Name ist Father MacKenzie", sagt der alte Pfarrer irgendwann und stützt sich auf den Stock, den er aus dem Inneren des Hauses geholt haben muss. „Ich bin hier der Reverend. Eleanor war nie getauft, aber sie war dennoch ein großer Bestandteil meiner Gemeinde. Vor allem in Zeiten wie diesen." Wie er so neben ihm sitzt, wirkt der Reverend zeitlos. So, als säße er seit Jahrzehnten an derselben Stelle und nehme sich andauend exzentrisch gekleideter junger Männer an, die in seinem Garten zusammenbrechen.

Er würde gerne etwas erwidern, aber es ist ihm noch immer so schwer. Warum ist er so schwach?

„Sie war eine gute Seele, die alte Miss Rigby. Einsam und traurig, aber sie hat sich in den zwanzig Jahren, die sie hier verbracht hat, keine Sünde zuschulden kommen lassen. Sie war ein guter Mensch. Ich werde sie sehr vermissen."

Nun schafft er es doch, Worte zu formulieren. „Es tut mir Leid, Father MacKenzie."

Doch er scheint unbekümmert. „Ach, der Tod holt uns alle. Mitleid macht ihn nur noch schmerzhafter." Dann seufzt er wieder und blickt in weite Ferne. „Sie war so einsam."

Seine Sicht scheint wieder zu verschwimmen und bevor er das Bewusstsein verlieren kann, stürzt der junge Mann den Löwenzahnsaft hinunter und steht auf wackligen Beinen auf. Die weiche Erde scheint ihn nie abdrängen zu wollen, trotzdem fühlt er sich ungeheuer losgelöst.

„Ich muss gehen", sagt er undeutlich und hofft, dass die Worte bei dem Reverend ankommen.

Dieser sieht auf, aber keine Worte des Abschiedes fallen von seinen Lippen. „Halt fest", sagt er nur. Es wird dunkel.

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