Flüsternde Hände ✓

By peniku

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»Hörst du das, Harry?« Konzentriert schloss ich die Augen und lauschte. Ich verzog das Gesicht vor Anstrengun... More

Hinweis.
Prolog - Rambo 2.0 bei Licht.
1 Straßenkunst.
3 Eine andere Welt.
4 Das Comeback.
5 Projekt Hearzone.
6 Deaf Studio.
7 Wie Ben Stiller?
8 Der letzte Gentleman.
9 Vierzehn m².
10 König des Waldes.
11 Der Feind im Haus.
12 Dating Harry Styles.
13 Bibbidi-Bobbidi-Boo.
14 Der Erklärbär.
15 Dating Isabell Weston.
16 Der rote Faden.
17 Die Themse rockt.
18 Dein siebter Sinn.
19 Herzensschöne.
20 Morgenröte.
21 Wahrheit ist echt.
22 Unser Universum.
23 Die andere Seite.
24 Deaf Slam.
25 Hörst du das?
26 Geheim für immer.
27 Vergiss es, lass es.
28 Zu Hause.
29 Alte Grenzen.
30 Shopping King.
31 Silvester.
32 Lautlose Liebe.
33 Das Versprechen.
34 Waffenstillstand.
35 Die große kleine Überraschung.
36 Der Vertrag.
37 Grenzgänger.
38 Zwo - eins - Risiko.
39 Seifenblase voller Glück.
40 Und Action!
41 Doppelleben im Schatten.
42 Kalter Krieg.
43 Oldie & Goldie.
44 Gib mir mehr Himmel.
45 Augenblick.
46 Ich sehe, was du nicht siehst.
47 Der kleine Tod.

2 Virus total.

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By peniku

┊  ┊  ┊           ★ ISABELL

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Beladen mit einer Seitentasche voller Unikram und noch einmal zwei weiteren Stofftaschen, in denen ich sicher verstaut Bücher gebunkert hatte, schleppte ich mich Freitagsnachmittag durch eine volle Metro und trug die Bücher quer durch die Stadt.

Bis zum Big Ben war es zum Glück nicht mehr weit. Mich empfing eiskalte Luft. Der Winter war definitiv angebrochen und sofort wurden meine Hände rau. Ich hasste es, nach der Uni nicht direkt nach Hause fahren zu können.

In der Regel startete mein perfektes Wochenende mit einer Runde Skype mit meiner besten Freundin Amanda, die in Manchester ihre Ausbildung zur Zweiradmechanikerin machte. Danach eventuell ein, zwei Folgen von Doctor Who. Natürlich mit prima Untertitel.

Ich hatte sämtliche Staffeln im Angebot gekauft und konnte es kaum erwarten erneut mit diesem verrückten Doctor auf Verbrecherjagd zu gehen. Mit Chips, After Eight Schokolade und vielleicht – nein, mit nichts Gesundem. Cola gehörte dazu.

Noah hatte gestern beim Einkaufen behauptet, ich würde irgendwann noch fett werden. Nun, da war ich ihm etwas voraus. Ich war schon rund. Wenn ich nicht aufpasste, dann war ich bald nicht nur moppelig, sondern passte im Frühjahr in keine einzige Hose mehr.

„Wieso bist du immer vor mir hier!", entfuhr es mir gefrustet, als ich Sunny in ihrem Rollstuhl, umgeben von Touristen, endlich vor dem Big Ben erreichte. Viel zu düster geschminkt, in dunkler Kleidung sah sie mich zynisch an: „Ich bin eben wesentlich bemitleidenswerter als du. Einem Rollifahrer machen sie alle immer mit betretenen Gesichtern platz."

„Quatsch, du hast einfach nur weniger Ballast", meinte ich und hing eine der Taschen hinten an ihrem Rollstuhl fest, dann lächelte ich breit: „Also Sonnenschein, warst du die Woche ein braves Mädchen? Du warst schon lange nicht mehr beim Treffen."

„Ich bin sechzehn, also hör auf mich wie eine Dreijährige zu behandeln", empörte sich Sunny sofort und während sie neben mir her rollte, erzählte sie: „Ich habe Mathe geschrieben und musste wieder eine Runde heulen, weil ich nur Bahnhof verstanden habe. Mal ehrlich, wer braucht Exponentialfunktionen, trigonometrische und ganzrationale Funktionen?"

Ich kicherte, denn durch denselben Mist hatte ich mich als Schülerin auch immer gequält. „Du hättest Noah anschreiben können, ob er dir hilft. Er studiert den Scheiß immerhin."

Mein bester Freund fand nichts toller als Mathematik. Abgesehen von seiner krankhaften Schnitzeljagd, alles was mit Inklusion zu tun hatte, auszuprobieren. Gut, Fußball schluckte auch viel seiner Freizeit, aber mir wurde jedes Mal übel, wenn er von irgendwelchen Kurven, Grafiken, Hieroglyphen und was wusste ich nicht, schwärmte.

„Wenn Noah erklärt, dann kann ich mich nur schwer konzentrieren", meinte Sunny. „Er kriegt dann immer so ein widerliches Funkeln in den Augen." Sie fuchtelte mit einer Hand vor ihren Augen herum und ich seufzte: „Ja, ich weiß was du meinst, und das wirklich Verrückte, er hat das nur bei irgendwelchen Formeln oder beim Fußball."

„Aber er steht schon auf Mädchen?", wollte Sunny wissen. Ich zuckte mit den Schultern: „Nehme ich an. Mit mir spricht er nicht über Brüste und so. Aber vielleicht mit Mozzie."

Ich hatte beim Filme schauen und bei Serien noch nie vernommen, dass er hinsichtlich Blake Lively und anderen Damen mal fallen gelassen hätte: Nette Schickse. Da war immer nur die Begeisterung über Action und Intrigen gewesen.

„Er hatte die eine oder andere Freundin, aber wirklich verknallt habe ich ihn noch nie erlebt", gab ich zu. Ich schob Sunny in unser Stammlokal Speck-Eck, das sich etwas versteckt in einer Nische befand und in der Regel zu dieser Uhrzeit eher spärlich besucht war.

Dort kamen wir mit ihrem Rollstuhl immerhin ganz gut durch und ich verstand sie akustisch gut genug, dass sie mit mir nicht gebärden musste. Die Regel war das nicht. Restaurants, mitten an der Hauptstraße waren so laut, durch Musik und Nebengeräuschen, dass ich mich beim Essen irgendwie nie richtig erholen konnte.

Sunny sagte zwar, dass es sie nicht störte zu gebärden, aber ich genoss es manchmal mich mit jemanden akustisch auszutauschen der gleichzeitig auch Rücksicht auf mich nahm. Ihr Mundbild war sauber und ohne lange zu fackeln wiederholte sie ihren Satz einfach, wenn ich sie nicht sofort beim ersten Mal verstand.

Im Speck-Eck war es gemütlich durch die gepolsterten alten Bänke und die wechselnden Gerichte machte es nicht langweilig. Wir bestellten uns neu durch die Karte und ließen uns zum hausgemachten Apfelpunsch überreden. Nachdem ich Sunny erklärt hatte, welche Buchklassiker ich ihr aus der Fachbibliothek geliehen hatte, kam unser Essen und mir fiel wieder ein, was ich sie unbedingt noch hatte fragen wollen.

„Übrigens, hat Miss Morgan schon mit dir über dieses neue Inklusionsprojekt gesprochen, das wir testen sollen?"

„Das Konzert? Ja, sie hat mich auswählen lassen." Sunny nickte und ich sah sie abwartend an, doch sie antwortete nicht, also hakte ich nach: „Welches Konzert hast du dir denn ausgesucht?"

Sie blickte plötzlich verdächtig verlegen auf ihren Burger und murmelte etwas in ihrem nicht vorhandenen Bart. Ich runzelte die Stirn: „Was? Ich verstehe dich nicht."

Sunny kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Ist ein Comeback-Konzert."

„Von wem?", ich war Null auf dem Laufenden, wer überhaupt Pause gemacht hatte.

„One Direction", gestand sie mir selig lächelnd.

Ich dachte nach. „Kenne ich die?"

Nun blickte sie mich entgeistert an. „Natürlich kennst du die, jeder kennt die! Hast du kein X-Factor geguckt, damals?"

Offen gestanden, ich sah abgesehen von Serien überhaupt kein Fernsehen. Sunny packte ihr iPhone aus und wenig später hielt sie es mir unter die Nase. Ich sah auf vier Jungen, die mir bekannt vorkamen. Hatte ich deren Gesichter nicht erst mit Edding verunstaltet?

„Früher waren sie fünf, jetzt sind sie nur noch zu viert und ich finde sie so tausend Mal besser! Leider haben sie eine ewigewigewigewigewig lange Pause gemacht und jetzt sind sie mit voller Kraft wieder da", teilte Sunny ihr Insider-Wissen mit mir. 

Ich vergrößerte das Bild und fragte: „Machen sie nicht diese Werbung, wo einer als Astronaut angestampft kommt?" Zumindest hatte ich diese Parfüm-Werbung mal vor langer Zeit in der U-Bahn-Halle gesehen. Den Blonden und den mit den Locken würde ich wohl als Erstes wiedererkennen.

„Sie sind so toll! Irgendwelche Neider und Ärsche meinten, sie würden nicht wieder kommen, aber da haben sie sich gewaltig geirrt! Die One Direction-Hype tötet nichts so schnell ab! Auch dieses komische KPop nicht, das jetzt alle so geil finden", fing Sunny an zu schwärmen und dann begriff ich: Sie war dieser Band absolut verfallen. Von wegen wir würden Hardrock zu hören kriegen.

„One Directon ist total talentiert und voller Überraschungen!"

Aha.

„Unglaublich authentisch!"

Wobei, beim singen?

„Tolle Stimmen!"

Bei dem Aussehen war das bestimmt eh nur nebensächlich. Sie waren alle vier auf die eine oder andere Weise nett anzusehen. Für jeden Typ Mädchen war was dabei. Wobei ich mir bei diesem Möchte-gerne-Zuhälter bestimmt kein Bein ausreißen würde. Der hatte sich sicher im Dunkeln angezogen.

„Du wirst sie lieben."

Da wäre ich mir nicht so sicher.

Schweigend hörte ich Sunny beim schwärmen zu und fragte mich, wer zum Teufel mir eigentlich gegenüber saß. Sie sah aus, wie eine Gewitterwolke und wollte mir ernsthaft erzählen, dass sie auf eine Boyband stand?

Das passte so gar nicht zu dem Bild, das ich von ihr hatte. Das Schlimme an ihrer Schwärmerei war jedoch - sie hörte gar nicht mehr auf.

Zuerst faselte sie etwas von einem Kinofilm, dann von einem Konzertfilm, den sie hatte. Schließlich gab es Gastauftritte in verschiedenen Serien. Zugegeben, ich kam so oder so nicht mehr mit. Dann gab es da irgendwelche Model-Affären, eine ungewollte Schwangerschaft, Krieg mit den Swifties und lauter spanische Dörfer gaben sich mir die Hand.

„Ich bin so froh, dass wir wirklich noch Karten bekommen haben", hauchte sie schließlich. Ich hatte meine Kartoffelecken und den Maiskolben schon weg, sie dagegen war immer noch beim dritten Bissen. Bei mir hätten sämtliche Alarmglocken schrillen müssen, doch stattdessen nickte ich nur lächelnd vor mir hin und betrachtete meine kleine Freundin, wie sie mit roten Wangen verliebt vor sich hin erzählte.

Herr Gott, wenn sie beim Konzert auch so abging, dann konnte das noch lustig werden. 

Ich schob sie schließlich nach zwei Stunden zurück zum Treffpunkt und da durfte ich mir immer noch etwas von irgendwelchen Live-Stream-was-wusste-ich-Chats und Krankheiten Namens Larry, Elounor und Hendall anhören. Diese Jungs mussten ja jede Woche für ein neues Drama im Fandom sorgen, es nahm ja überhaupt kein Ende mehr.

„Nächste Woche ist es dann so weit. Ich hoffe, ich werde nicht ohnmächtig", erklärte Sunny mir. „Wehe wir sehen nichts, dann erkläre ich das Projekt auf der Stelle für gescheitert und verlange eine Tee-Party mit den Jungs privat! Als Ersatz, dass sich meine Psyche wieder einpendelt!"

„Wäre nicht das erste Mal, dass so ein Projekt in die Hose geht", gab ich zu bedenken. „Erinnerst du dich noch an den inklusiven Vergnügungspark?"

„Oh ja, ich hab mich überhaupt nicht amüsiert. Unterwegs wurde das Vergnügen irgendwie dem Klo runter gespült", schimpfte sie und wir ließen endlich die Schwärmerei für diese Boyband hinter uns. Stattdessen verfluchte sie die vielen Stufen und die Ignoranz der Mitmenschen.

Ich stimmte ihr immer wieder energisch zu und als ich mich verabschiedete, wartete ich so lange, bis Sunny quasi aus meinem Blickfeld gerollt war.

So war es immer.

Sie war ein taffes Mädchen, aber manchmal hatte ich einfach den großen Drang sie bis nach Hause zu begleiten. Doch Sunny wollte das nicht. Sie war selbstständig genug und wollte das auch jeden beweisen. Teilweise konnte ich das sogar verstehen.

Ich huschte nach Hause und roch bereits im Flur des leicht nachlässigen Hauses, dass Noah mal wieder Nudeln auftischen würde. Langsam sah ich selbst schon aus, wie eine Nudel. Ich schrieb mir innerlich ein Memo, dass ich ihm ein Kochbuch für Studenten zu Weihnachten schenken würde, wo auch Reisgerichte drin standen.

Die Maisonettewohnung unter dem Dach war klein, niedrig, aber Noahs und mein geheimer Rückzugsort. Normalerweise konnte sich keiner von uns finanziell große Sprünge leisten, aber Noahs Granny kannte den Vermieter und unter der Hand hatten die beiden Alten irgendetwas miteinander klar gemacht.

Eine steile und knarrende Treppe nahmen wir also immer in Kauf, ehe wir das obere Stockwerk erreichten. Die Küche war klein, es passten nur vier Leute an den Tisch und wenn wir Nachts aufs Klo mussten, dann blieben Treppen nicht aus.

Noah und ich hatten je ein Zimmer im oberen Teil der Maisonettewohnung. Sie waren winzig und durch die Dachschrägen konnte man nur schwer Regale aufstellen. Ich hatte nicht einmal Platz für einen Schreibtisch. Noah auch nicht, weshalb wir oft am Küchentisch unsere Aufgaben für die Uni machten, oder im hellen Wohnzimmer.

Das war dass wirklich tolle an der Wohnung. Sie war hell und hatte große Fenster. Noah und ich brauchten beide immer sehr viel Licht, genauso wie unsere Leidensgenossen. Eine Kellerwohnung war deshalb von Anfang an nicht in Frage gekommen.

Mr Murray, der Vermieter, war zwar ein schlechtgelaunter Zausel, aber er erlaubte uns Teile des Gartens mitzubenutzen, wenn wir im Sommer Rasen mähten. Etwas, womit Noah nie ein Problem hatte.

Im Flur zog mir die Schuhe aus, stellte die Taschen ab und sah ihn in der Küche über Mathematikbücher sitzen. Neben ihm lagen Notizen für die App Starks. So wie es aussah würde Noah also wieder für das Gehörlosen Magazin Hearzone schreiben.

Er übernahm es oft über angebliche Inklusionsfortschritte zu berichten und Technik auszuprobieren, während ich regelmäßig mehrere Artikel Korrektur lesen durfte. Zugeben, es brachte nicht das große Geld, aber dafür ein monatliches Exemplar umsonst und ein Essen, das wir nicht selbst kochen mussten.

Nachdenklich kaute Noah auf seinem Kugelschreiber herum. Als er mich bemerkte, blickte er auf und grinste, dann legte er den Stift zur Seite und fragte: »Wie war das Essen mit the Ring? Hast du noch Platz für Nudeln?«

Ich schüttelte den Kopf. »Voll bis oben hin. Sorry. Aber dafür weiß ich jetzt, auf was für ein Konzert wir gehen.«

Nun hatte ich Noahs ganze Aufmerksamkeit. Er sah mich interessiert an. »Wohin gehen wir?«

»Nächste Woche findet es schon statt, vielleicht kriegen wir am Wochenende noch eine Nachricht. Die Band heißt...«, ich hielt inne. Wie schrieben die sich denn?

Langsam benutzte ich das Fingeralphabet um den Namen zu buchstabieren. Noah unterbrach mich jedoch und stand auf. Kurz darauf kam er mit seinem Laptop wieder und ich sollte den Namen eintippen.

Ich tat ihm den Gefallen und dann lachte er: »Echt? Sie heißen One Direction? Das One wird echt ausgeschrieben, sicher dass es nicht anders ist?«

Ich nickte, stimmte bei dem Wort One zu und dann begann er die ersten Videos anzuklicken. Während mein bester Freund sich nun in ein, für ihn stummes, Musikvideo mit den Namen 'what makes your beautiful' vertiefte, hing ich meinen Mantel auf und warf mich in meine Sporthose.

Als ich wiederkam, hob Noah den Kopf und erklärte mir mit verwirrter Miene: »Das ist eine Boyband, sie spielen aber irgendetwas anderes. Sie tanzen nicht einmal gleich, oder tragen Kostüme.«

Ich setzte mich auf die Eckbank und sah auf den Bildschirm, wo gerade das Video lief. Noah blickte mich skeptisch an: »Das passt überhaupt nicht zu the Ring!«

»Das habe ich auch erst gedacht«, gab ich zu und Noah meinte: »Sie hat dich sicher verarscht.« Nun schüttelte ich heftig den Kopf und begann zu erzählen, dass sie einfach nicht aufgehört hatte zu schwärmen. Für ganze drei Stunden.

Noah wippte nur den Kopf und dann widmete er sich wieder seinem Laptop. Ich sah, dass er weiter suchte und schließlich bei irgendwelchen Funny Moments Videos hängen blieb.

Na dann sollte er sich mal selbst überzeugen. Ich würde hier nicht hocken bleiben, schließlich hatte ich eine ganze Staffel von Doctor Who, die ich noch schauen wollte, bevor Weihnachten näher rückte. Viel Zeit blieb mir da nicht mehr.

Gerade sprang Doctor Who wieder munter mit Amy Pond durch die Zeit, als Noah in unser kleines, improvisierte Wohnzimmer stürzte. Natürlich mit seinen Laptop in den Händen. Er stellte ihn auf dem niedrigen Tisch ab, pausierte meine Serie und verlangte: »Zeig mir den Beat von diesem Lied!«

Hallo?

Ich hatte ja jetzt auch nichts anderes zu tun, als mir die Songs von irgendeiner Band reinzuziehen und gegen Noahs Hand zutippen. »Nicht jetzt. In einer Woche wirst du den Beat doch eh spüren, wenn das Inklusionsprojekt gelingt.« Ich grapschte zur Fernbedienung und wollte die Serie weiter laufen lassen, als Noah sie kurz darauf wieder pausierte.

»Komm schon, Foxy. Den Doctor kannst du das ganze Jahr noch anschmachten! Nur ein Lied.«

Es war unnötig zu erwähnen, dass ich nicht nur ein Lied 'übersetzten' musste. Wir begannen mit einem Song, der sich Story of my life nannte. Ich brauchte zwei Anläufe, bis ich mir sicher war den richtigen Beat zu tippen.

Das Video war ganz cool, dass musste selbst ich zugeben. Dann folgte ein weiterer Song und Noah wurde dezent ungeduldig, als ich es mehrmals hören musste. Drag me down war leichter. Da ich die Lieder nicht gerade leise hörte, hoffte ich immer noch auf einen erlösenden Nachbar, der sich beschweren kam. Doch unsere Blitzlicht-Klingel regte sich nicht.

Verdammt!

Der nörgelnde Mr Murray ist auch nicht mehr das, was er einst war. Er beschwerte sich doch sonst wegen jeden Pups. Auf niemanden war mehr Verlass.

Nach fast zwei Stunden übersetzten hatte ich die Nase voll. Noah nötigte mich sogar dazu irgendwelche Interviews zu gebärden und da stieß ich an meine Grenzen. Die Untertitelfunktion bei Youtube war der reinste Mist und mir brummte der Schädel.

Ich musste dermaßen aufpassen und zurückspulen, dass meine Laune irgendwann den absoluten Tiefpunkt erreichte. Besonders diesen blonden Kerl verstand ich so gut wie gar nicht. Hatte der einen Dialekt? Aber auch der Typ mit den Tattoos und der hohen Stimme machte es mir schwer. Sein Englisch klang irgendwie hart.

Gerade wollte Noah mich dazu zwingen, ein altes Interview mit Alan Carr zu übersetzten, als ich energisch abwehrte: »Nein! Das reicht, ich mag nicht mehr!«

»Ach komm, Foxy!«

»Vergiss es! Frag the Ring, ihr könnt ja zusammen fangirlen!«

Beleidigt dampfte Noah ab und die Woche zum Konzert änderte so einiges in meiner Freizeit. Noah infizierte Soyun und Mozzie mit diesem One Direction-Kram. Er erzählte von dem Kinofilm und dass er ihn mit Sunny zusammen gesehen hatte. Außerdem hätten sie einen großartigen Konzertfilm, die Bilder wären so knallig und toll gewesen, dass er sogar überlegte ihn zu kaufen, obwohl er keinen einzigen Ton hörte. Ich fand das lächerlich und sagte ihm das auch.

Mozzie, der wie ich, ein bisschen Gehör übrig hatte, stand dem Ganzen erst misstrauisch gegenüber. Zuerst hatte ich in ihm einen Verbündeten gesehen, bis er mir verkündete, dass manche Lieder gar nicht so übel waren.

Eh ich mich versah, hatte ich einen Ohrwurm von Steal my girl und raufte mir frustriert die Haare. Ich wollte das nicht. Als nächstes fingen sie noch an Fan-Shirts zu tragen. Wir und Musik, das ging auf Dauer sowieso nicht besonders gut.

Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser One Direction-Kram ein Ende fand. Als mir Noah jedoch mitteilte, dass es sie schon über fünf Jahre gab, begriff ich, das es aussichtslos war.

Ich fand mich damit ab, dass es in der Whats-App-Gruppe nur noch um das bevorstehende Konzert ging und dass alle hofften, dass sie wahrhaftig etwas vom Konzert mitbekamen. Ich behielt für mich, dass ich daran nicht glaubte. Denn Musik und Gehörlosigkeit waren zwei verschiedene Welten. Niemand von uns würde großartig die Lyrik mitträllern können, geschweige denn verstehen, was da gesungen wurde.

Trotzdem war ich froh darüber, dass am Freitag dieser Spuk endlich ein Ende hatte. Meine Freunde würden selbst feststellen, dass zwischen Musik und uns eine Art Mauer stand und dann würden sie sich wieder realistischeren Dingen zuwenden.

Das Nächste, was ich lernte, als ich vor The O₂ Arena stand, war: Hörende hatte definitiv einen an der Klatsche.

In Massen sah ich Fans. Überwiegend Mädchen in sämtlichen Altersklassen, vereinzelt ein paar Kerle, denen wahrscheinlich keine andere Wahl gelassen wurde. Einige hatten irische und englische Flaggen dabei und ich fing an, mich zu fragen, wieso. Immer wieder stimmten sie irgendwelche Lieder an und hatten große Plakate dabei, auf denen 'Love your more than wifi' und 'Forever five' stand.

Wollten sie damit irgendetwas besonderes sagen?

Alleine Soyuns Frage am Morgen, was man denn zu einem Konzert anziehen würde, hatte mal wieder eine riesige Diskussion vom Zaun gebrochen. Am Ende sahen wir alle nicht viel anders aus, als im üblichen Alltag. Ich würde mich doch jetzt nicht extra für irgendwelche Stars in Schale werfen, wenn die mich in dem Meer aus gefühlten Millionen Gesichtern sowieso nicht sehen würden.

Sunny schob ich vor mir her, sie trug ein Shirt, auf dem stand: Niall Please und im ersten Moment hatte ich sie verwirrt gefragt: „Wer ist Niall?" Ihr Blick war so empörend gewesen, dass ich die Frage prompt bereute: „Hörst du mir eigentlich zu, wenn ich dir etwas erzähle?"

Eigentlich schon, aber vielleicht hatte ich beim Essen auch einfach irgendwann auf Durchzug geschaltet.

Wir zogen durch diese Fanmasse, voran stolperten meine Freunde, die angeregt miteinander plauderten und als wir den Nebeneingang erreichten, vor dem wir Miss Morgan antrafen, mussten wir extra Pässe vorzeigen. Ich merkte daran, dass Noah mit den Füßen auf und ab wippte, dass er aufgeregt war. Hoffentlich wurde er von dem Inklusionsprojekt nicht all zu sehr enttäuscht.

Hinter Miss Morgan sahen die großen Türen aus, wie die Tore zu einer anderen Welt. Das es im Endeffekt auch genau das war, eine andere Welt, war mir in diesem Moment nicht so ganz klar. Eine Welt aus Fan-Dramen, Twitterkriege, Larrys und Showbizz-Fake-Glitzer.

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