Jimmy is Dead - ein Noire-Kri...

By Cr1ssC4stle

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"Als Kind hatte ich Albträume. Von Monstern, Biestern, Kreaturen, die mir nach dem Leben trachteten. Manchma... More

Kapitel 01: In the beginning...
Kapitel 02: Flashback
Kapitel 03: Übergabe mit Hindernissen
Kapitel 04: Verhörspiele
Kapitel 05: Flickwerk
Kapitel 06: Plan B
Kapitel 07: Unterschlupf
Kapitel 08: Die guten alten Zeiten
Kapitel 09: Hausbesuch
Kapitel 10: Bestandsaufnahme
Kapitel 11: Nowhere City Blues
Kapitel 13: Prohibition
Kapitel 14: Home, sweet home
Kapitel 15: Gezielter Abschuss
Kapitel 16: Albträume
Kapitel 17: Heute keine Sprechstunde
Kapitel 18: Geduldspiele
Kapitel 19: Eine Falle für zwei
Kapitel 20: Arztgespräche
Kapitel 21: Ein halber Plan
Kapitel 22: Erlösung
Kapitel 23: Zahltag
Kapitel 24: Puzzleteile
Epilog (etwa sechs Monate später)
Danksagung

Kapitel 12: Geständnisse

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By Cr1ssC4stle

Ein Teil von mir wollte mir am liebsten in den Arsch treten. Hatte ich eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Hatte ich Nikky wirklich Zeit gegeben, ein paar Anrufe zu tätigen, um mir einen liebevollen Empfang im Poets Corner zu bereiten? Nun ja, ein anderer Teil von mir behauptete, das wäre genau die richtige Entscheidung gewesen. Vertrauen beweisen, ihr ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken geben, selbst Zeit zum Verdauen haben.

Mein Handy begann zu vibrieren. Ein Blick aufs Display ließ mich stutzen. Wenn Jim Stentson bei mir anrief, hieß das bestimmt nichts Gutes.

"Hallo, Jim. Was gibts?"

"Ray, hast du grad nen Fernseher in der Nähe? Dann schalt ihn an."

Zufällig kam ich gerade an einem Elektronik-Markt vorbei. Im Schaufenster liefen auf einem gigantischen Flatscreen, der für einen fast schon unanständigen Preis feilgeboten wurde, die Nachrichten.

"...wie es scheint zu einer spektakulären Entwicklung bei der Aufklärung des Anschlags an den Docks, bei dem einige Unterweltgrößen aus Nowhere City ums Leben kamen. Wie wir aus Polizeikreisen erfahren haben, wurden am Tatort Blutspuren gefunden, die Jimmy "the Saint" zugeordnet werden konnten. Das mysteriöse daran: Jimmy "the Saint" wurde vor etwa 5 Jahren für tot erklärt nach einem Anschlag, bei dem auch seine Lebensgefährtin ums Leben gekommen war. Die Leichen sind mittlerweile fast alle identifiziert. Bislang jedoch Fehlanzeige. Da jedoch jede weitere Spur von ihm fehlt, ist zum derzeitigen Ermittlungsstand noch nicht klar, ob es sich hier nur um einen makaberen Scherz, oder einen Fehler bei der Gerichtsmedizin handelt, oder ob er sich doch noch unter den Opfern befindet. Sollten sich die Spuren erhärten, wäre das eine kleine Sensation, die zahlreiche Fragen aufwirft..."

Der Boden begann sich zu drehen. Verdammt. Woher...?

"Ray, bist du noch dran?"

"...äh, ja."

"Wir sollten uns treffen."

"Denke ich auch. Jetzt gleich?"

Im Geiste sah ich ihn in seinem Büro sitzen. Chaotisches herumgewusle um ihn herum. Neue Spuren mussten verfolgt werden, Fragen geklärt. Wie konnte es sein, dass ein Schwergewicht wie Jimmy einfach so draußen rumlaufen konnte, ohne dass jemand davon wusste? Wo hatte er sich versteckt? Was war an den Docks wirklich passiert? War es überhaupt möglich, dass Jimmy noch lebte? Und wenn nicht - woher stammte das Blut?

Ich wusste, Jim wäre froh, dem Trubel kurz entkommen zu können, um "einen Informanten" zu befragen.

"Nichts lieber als das. Bei uns ist die Hölle los. Am Denkmal?"

Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte noch gut eine Stunde bis zu meinem Treffen mit Nikky.

"Bin gleich bei dir."

Wir verabschiedeten uns, legten auf. Ich hatte bestimmt genau so viele Fragen an Jim, wie er an mich.

***

Der Himmel war grau, es würde bald regnen. Aber noch war alles trocken. Jim saß bereits auf der Bank, als ich das Denkmal erreichte. Beim letzten Mal hatte die Sonne geschienen, aber nun hingen die Wolken schwer wie ein großes Fragezeichen über uns.

"Danke, dass du so schnell gekommen bist."

"Na bei solchen Meldungen..."

"Du kannst dir sicher denken, dass ich ein paar Fragen an dich habe."

"Sicher. Frag einfach. Mir ist auch das eine oder andere unklar. Ich denke, wir können uns beide weiterhelfen."

Er seufzte, sah mir in die Augen und nickte leicht.

"Na schön. Aber ich fange an."

"Meinetewegen."

"Wie du dir denken kannst, sind wir im Präsidium nicht besonders glücklich darüber, dass wir eine Schwachstelle haben. Die Informationen, die heute gesendet wurden, sind noch nicht mal verifiziert. Aber leider fliegt uns jetzt der ganze Drecksfall von damals um die Ohren. Der Comissioner verlangt nach Antworten. Leider war ich in den Fall damals nicht involviert und der Kollege, der ihn bearbeitet hat, ist vor 2 Jahren bei einer Schießerei gestorben. Ich hoffe, du kannst mir weiterhelfen."

"Das hoffe ich doch."

"Bist du dir sicher, dass Jimmy tot ist?"

"Absolut. Du hast mit Sicherheit die Blutmenge gesehen, die er damals am Tatort zurückgelassen hat. Die Schleifspuren zum Pier. Wer auch immer Jimmy angeschossen hat, hat ihn ins Wasser geworfen. In seinem Zustand hat er das unmöglich überlebt."

"Aber wir haben niemals seine sterblichen Überreste gefunden."

"Die findet man in den seltensten Fällen. Du kennst die Strömungen der Ol' Lady besser, als die meisten Cops. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Leiche nicht sofort kilometerweit abgetrieben wird? Bis irgendjemand auf die Idee kam, Jimmy zu suchen, waren seine Überreste längst im Meer, zur Hälfte gefressen von irgendwelchen Raubfischen."

"Das haben wir auch immer für die wahrscheinlichste These gehalten. Aber wir dürfen die neuen Hinweise nicht außer Acht lassen. Auch wenn das heißt, dass wir den ganzen Scheiß-Fall nochmal komplett aufrollen müssen."

"Was äußerst schwierig werden dürfte, weil ja keiner mehr lebt, der damals irgend etwas mit der Sache zu tun hatte." Außer Vince. Und Ich. Aber darauf musste ich Jim nicht extra hinweisen.

"Was für eine Theorie hältst du jetzt für die wahrscheinlichste?"

"Ich weiß es nicht. Was, wenn Jimmy wirklich noch lebt? Was, wenn er alles nur inszeniert hätte, um weiß der Teufel was zu tun? Abzutauchen?"

"Er hätte sich bei mir gemeldet, mich beauftragt, ein paar falsche Spuren zu legen."

"Dann hätte er dich aber auch töten müssen, um sein Geheimnis zu wahren."

Ich ließ den Gedanken kurz in der Luft hängen. Das Bild, das Jim von meinem Alter Ego zeichnete, war kein schönes.

"Jimmy hätte Rachel nie ein Haar gekrümmt. Er hat sie wirklich geliebt."

"Aber was, wenn er herausgefunden hätte, dass sie nicht die war, für die sie alle hielten?"

"Wie meinst du das?"

Jim atmete tief durch. Er kämpfte kurz mit sich, bevor er weitersprach.

"Was, wenn Jimmy herausgefunden hat, dass Rachel eine Informantin war?"

"Eine WAS? Meinst du das ernst?"

Sein Blick verriet mir, dass ihm nicht zu Scherzen zumute war.

"Dir ist bewusst, dass sie die Tochter vom alten Sam war, oder?"

"Genau das machte die Sache für uns so interessant. Aber auch gefährlich. Irgendjemand meinte damals, es wäre eine gute Idee, sie an der Uni anzuquatschen. Und zu unserer aller Überraschung fand sie die Idee gut. Der Comissioner hielt das zunächst für einen dummen Scherz, aber es wurde schnell klar, dass sie wirklich nicht viel von den Geschäftspraktiken ihres Vaters hielt. Darum studierte sie auch Jura. Nicht, um nach Schlupflöchern zu suchen, sondern um etwas wieder gut zu machen. Ihr Familien-Erbe."

"Und wusste sie, dass ich...?" auch ein Informant war? Den Rest der Frage musste ich nicht aussprechen.

"Nein. Die Verantwortlichen hielten es damals für das beste, wenn sie nicht wusste, dass wir noch einen weiteren Maulwurf hatten. Zumal außer mir keiner wusste, wer dieser andere Maulwurf war."

"Und warum hast du mir nichts gesagt? Es wäre schon sehr hilfreich gewesen, zu wissen, dass ich nicht alleine war."

"Nichts für ungut, Ray, aber wir wollten an Jimmy ran. Und den, bei aller Freundschaft, hättest du uns nie geliefert."

Ich wusste, dass er Recht hatte. Aber ich ärgerte mich trotzdem, weil er mir nicht vertraut hatte.

"Da hast du wohl nicht Unrecht. Wieviel hat sie euch verraten?"

"Genau da liegt das Problem. Ich denke, sie hatte sich in Jimmy verliebt. Erzählte irgendetwas davon, dass sie ihn dazu bringen würde, auszusteigen. Auszupacken. Unterzutauchen. Du kannst dir vorstellen, welche Freudenstürme das im Präsidium ausgelöst hat. Aber ich habe meine Vorgesetzten gewarnt. Sie war zu nahe dran. Und wenn ihr Plan nicht funktionieren würde, wäre sie so gut wie tot. Hat damals aber keinen interessiert. Die Aussichten waren einfach zu verlockend."

Er schwieg eine Weile, starrte betreten zu Boden. Er hatte Rachel gemocht. Konnte ich ihm nicht verübeln.

"Damals dachte ich, sie hätte einfach Pech gehabt. Irgendwer wollte Jimmy aus dem Weg räumen und hat dabei alle beide erwischt. Aber was, wenn Jimmy es war, der wusste, dass sie eine Lügnerin war? Was, wenn sein Tod nur vorgetäuscht war, damit er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte?"

"Und wenn es nicht Jimmy, sondern jemand anders war? Was, wenn jemand dachte, Jimmy würde aussteigen wollen, und sich deshalb um beide gekümmert hat? Das würde auch erklären, warum er Jimmy zu Fischfutter verarbeiten ließ, während er Rachels Leiche einfach liegen hat lassen, als Warnung für euch und jeden, der es wagen würde, die Organisation nochmal zu unterwandern?"

"Diese Option dürfen wir nicht außer Acht lassen. Aber wie gesagt, sollte Jimmy doch noch leben, dann gnade ihm Gott, wenn ich ihn in die Finger kriege."

Die Drohung schwirrte noch ein wenig durch die Luft und verknotete meine Luftröhre mit meinem Magen.

Mir war schlecht. Rachel - ein Informant? Im Kampf gegen ihren eigenen Vater und seine Geschäftspartner?

Was war noch alles gelogen?

„Woher hattet ihr die DNA von Jimmy?" Ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort wirklich hören wollte.

„Von Rachel. Sie hat uns ein paar seiner Haare in einem kleinen Beweisbeutel übergeben. Meinte, wir würden sie brauchen, es so weit wäre. Aber keine Ahnung, was sie damit meinte. Vorsichtshalber haben wir die Proben in unsere Datenbank eingefügt. Und die hat laut geschrillt, als die Proben vom Pier fertig waren."

"Dann war ihr Verhältnis mit Jimmy - war alles nur Fake?"

Jim seuftzte wieder.

"Wie gesagt, ich glaube nicht, dass es gefaked war. Sie hatte sich wohl wirklich in ihn verliebt. Verdammt, der Bastard muss wirklich gut gewesen sein. Wohin man auch schaut, keiner, der mit ihm zu tun hatte, hat je ein schlechtes Wort über ihn verloren. Er hat wohl auch niemanden selbst umgebracht. Zumindest werden wir ihm wohl nie etwas nachweisen können."

"Was hat Rachel über ihn erzählt?"

"Nun ja, zunächst wusste sie ja nicht, wen sie vor sich hatte. Sie hat ihn wohl in irgend einer Bar getroffen. Netter Kerl, bla bla bla. Hatte wohl das eine oder andere Ass im Ärmel. Und außer ihr, dir und wohl noch ein oder zwei Typen wusste auch niemand so genau, wie Jimmy wirklich aussah. Hat sich selten selbst irgendwo blicken lassen. Hauptsächlich organisiert und Fäden gezogen. Naja, ihre Berichte lasen sich bald wie kleine Lobeshymnen auf seine Raffinesse und seinen Charakter. Zu dem Zeitpunkt habe ich den Commissioner dazu geraten, die Sache abzublasen. Sie war nicht mehr objektiv. Er hat nur abgewunken, gemeint, ein bisschen Schwärmerei sei am Anfang ganz normal. Ich hab ja keine Ahnung, wie er ausgesehen hat, aber anscheinend hatte er kein Durchschnittsgesicht wie du und ich."

"Na herzlichen Dank für die Blumen."

"Du weißt, was ich meine. Irgendetwas muss er gehabt haben. Wie siehst du das?"

"Schätze, er war einfach ein netter Kerl. Ein Model war er jedenfalls nicht."

"Naja, dann fing sie an, zu erzählen, sie könne ihn vielleicht dazu bringen, auszusteigen, auszupacken. Sie ging sogar so weit, Straffreiheit für ihn zu fordern, wenn sie ihn dazu bringen könnte, gegen DeLaggio auszusagen."

"Seid ihr darauf angesprungen?"

"Wie gesagt, bei uns waren alle ganz aus dem Häuschen, als sie davon hörten. So eine Möglichkeit ergibt sich ja auch nicht alle Tage."

"Wann war das?"

"Etwa 3 Wochen vor ihrem Tod."

Das ganze begann langsam, so sehr ich mir auch das Gegenteil wünschte, Sinn zu machen. Rachel und ich, wir hatten wirklich darüber gesprochen, auszusteigen, uns zur Ruhe zu setzen. Wir hatten beide mehr als genug Geld, uns an irgendeinem Strand ein schönes Leben zu machen. Die Sache an den Piers wäre wahrscheinlich unser letzter Coup gewesen. Und jetzt wusste ich auch, was sie mir noch zu sagen hatte, an jenem schicksalsschweren Abend.

"Wenn wir wieder zuhause sind", hatte ich leichtfertig geantwortet, und mich deshalb jahrelang vorwurfsvoll gefragt, was sie mir hatte sagen wollen.

Jetzt hatte ich wohl eine Antwort. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich auf ihren Vorschlag, auszupacken, reagiert hätte.

"Ray?"

Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben.

"Hmm?"

"Bist du noch bei mir? Ich hab dich gerade gefragt, ob du dir vorstellen kannst, dass Jimmy auf ihren Vorschlag eingegangen wäre."

"Genau darüber zerbreche ich mir gerade den Kopf. So wie ich Jimmy gekannt habe, würde ich ihm glatt zutrauen, dass er es getan hätte. Er hatte eine Menge für Rachel übrig. Sie hätte quasi alles von ihm verlangen können, und er hätte es ohne mit der Wimper zu zucken getan."

Jim setzte ein kleines, bittersüßes Lächeln auf.

"Das hätte sie wohl wirklich geschafft. Sie war schon echt eine Nummer für sich..."

"Das war sie wirklich..."

Wir gaben uns einen Moment der Erinnerung hin, bevor Jim wieder sein geschäftsmäßig neutrales Gesicht zur Schau stellte.

"Also wenn dir noch irgendwas einfällt - und damit meine ich wirklich IRGENDWAS, dann gib bescheid. Ich werde nicht ewig verheimlichen können, wer mein 2. Informant war. Und wenn meine Kollegen mit dir sprechen, werden sie wohl kaum so freundlich sein, wie ich."

"Danke für die Warnung. Ich weiß das zu schätzen. Und wenn ich noch über irgendetwas stolpere, bist du der erste, ders erfährt."

Wir verabschiedeten uns mit Handschlag.

Als ich mich umdrehte, um zu gehen, rief Jim noch einmal meinen Namen.

"Ray? Mach nichts dummes, ok?"

"Kann ich nicht versprechen. Aber ich kann dir versprechen, dass ich Antworten finden werde."

"Dann pass wenigstens auf dich auf. Und lass dich bei nichts Illegalem erwischen, wenns geht."

"Ich versuchs."

***

Auf dem Weg zu Nikky rekapitulierte ich nocheinmal alles, was ich heute erfahren hatte.

Rachel hatte also eine Schwester gehabt. Ihr Vater war ein alter Bekannter, der wegen mir gestorben war. Warum hatte er das getan? Warum hatte er mich nicht einfach liegen lassen?

Seine Erstgeborene war ein Polizeispitzel und arbeitete an seinem Niedergang. Hatte er das gewusst? Hatte er etwas mit ihrem Tod zu tun? Nein, das konnte ich wohl ausschließen. Sam war viel zu sehr Familienmensch gewesen. Er hätte sie vielleicht irgendwo "versteckt", aber einen Attentäter auf sie angesetzt?

Vince.

Ich wusste, dass er die Antwort war. Irgendwie musste er Wind von der Sache bekommen haben. Vielleicht hatte er Angst, in den Knast zu kommen, wenn ich ausgepackt hätte. Vielleicht steckte aber auch noch mehr dahinter. Ich würde ihn finden, und er auspacken. Egal wie. 

Was wusste ich ansonsten alles noch nicht über die Frau, die an meiner Seite, in meinen Armen gestorben war?

Ich war mir nicht sicher, wie viel ich eigentlich wissen WOLLTE, während ich die Tür zum Bistro öffnete.

Es war früher Nachmittag, etwa die Hälfte der Tische war besetzt. Direkt am Eingang war die Bar, der Gastraum dahinter teilte sich auf zwei Stockwerke auf. Ein gemütlicher Ort, an den kleinen, runden Tischen keine Stühle oder Bänke, sondern bequeme Sessel und Zweisitzer-Couches. Altes Leder, an manchen Stellen durchgewetzt, zeugte von einer regen Frequentierung. Die Wände waren mit Bildern und Gedichten berühmter Dichter und Poeten behangen. Vor den Fenstern schwere, dunkle Gardinen. Das ganze schien stimmig; wo andere Etablissements versuchten, Vintage-Atmosphäre nachzumachen, und dabei grandios scheiterten, glänzte das Poets Corner. Es WAR alt, gebaut irgendwann während der Prohibition. Der Charme war echt. Eine interessante Wahl.

Ich wusste, wo ich Nikky finden würde, noch bevor ich sie wirklich sah. Oberes Stockwerk. Gute Sicht auf den Eingang und den Treppenaufgang, kaum sichtbar von unten. Kluges Kind.

Wortlos setzte ich mich an ihren Tisch. Sie sah verändert aus. Sie trug einen geschäftsmäßig wirkenden, schwarzen Blazer mit dünnen weißen Streifen und dazu passender Hose. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Dutt zusammengeknotet, auf ihrer Nase saß eine von diesen neumodischen Brillen mit Fensterglas.

Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt.

Sie saß alleine, von Boris keine Spur. Aber zwei Tische weiter saßen ein Paar Typen, die einen eher finsteren Eindruck machten. Krumme Nase, Narben im Gesicht, konzentrierter Blick.

Ich reichte ihr die Hand.

"Guten Tag. Wie geht es unserem gemeinsamen Freund?"

"Ein bisschen ramponiert und ziemlich wütend. Aber er wird wohl wieder. Ich hielt es für besser, ihn zuhause zu lassen."

"Das ist wohl besser so."

Wir sahen aus wie zwei Geschäftsleute, die sich zu einem ungezwungenen Gespräch getroffen hatten. Irgendwo aus dem Nichts tauchte ein Kellner auf und reichte uns in dickes Leder gebundene Speisekarten.

"Darf ich Ihnen schon etwas bringen?"

Ein kurzer Blick zu Nikky.

"Einen Cappuccino bitte."

"Und für den Herrn?"

"Einen doppelten Espresso."

Er verschwand genau so lautlos, wie er gekommen war.

"Irgendwie unheimlich, finden Sie nicht?"

Ein kurzes Lächeln.

"Aber genau das macht einen guten Kellner aus. Er erscheint genau dann wenn er gebraucht wird, und verschwindet genau so lautlos wieder."

Sie lehnte sich zurück. Der Smalltalk war vorbei.

"Wo waren wir vorhin stehengeblieben?" als ich in ihr Heim eingedrungen war und ihren Bodyguard stillgelegt hatte? Sie ließ sich kein bisschen Verbitterung darüber anmerken.

„Ich denke, wir haben grundsätzlich falsch begonnen. Vielleicht sollten wir das jetzt nachholen."

Ich reichte ihr meine Hand.

„Ray O'Neill, Privatdetektiv."

„Nikky O'Leary, Geschäftsfrau."

„Mit Verlaub, Miss O'Leary, sie sehen nicht wie eine Irin aus."

„Meine Mutter war Schwedin. Mein Vater aus Cork. Hab wohl mehr von ihr geerbt."

Im Gegensatz zu ihrer Schwester. Rötliches Haar, grüne Augen; sie hatte zwar auch keine wirklich irischen Gesichtszüge gehabt, konnte ihre Herkunft aber kaum verleugnen.

„Und Sie, Mr. O'Neill?"

„Vater Ire, aus Dingle. Mutter von hier. Beide starben bei einem Autounfall, als ich noch recht klein war."

„Wie ging es weiter?

„Nun ja, offiziell aufgewachsen in einem Heim, tatsächlich aber mehr bei der Familie eines Klassenkammeraden. Italiener."

„Kennt man den Familiennamen?"

„DeLaggio. Und ja, ich bin mit Vincento aufgewachsen."

„So sind sie also in DeLaggios Familienunternehmen gelandet."

„Mehr oder weniger. Der Alte DeLaggio sagte immer, ich wär ein guter Junge, aus mir könne mal ein richtiger Mann werden. Was auch immer das heißen sollte." Ich schüttelte leicht den Kopf, als mir die Erinnerung an diesen Satz durch den Kopf schwirrte.

Nikky lachte. Ein kleines, aber ehrliches Lachen.

„Mein Vater hatte sich immer einen Jungen gewünscht, der einmal seine Geschäfte übernehmen könnte. Nach 2 Töchtern gab er die Hoffnung wohl auf. Im Gegensatz zu meiner Schwester, die lieber Jura studieren wollte, durfte ich mich dann doch noch recht jung in seinen Betrieb einfügen."

„Ich hatte beruflich öfter das Vergnügen, auf Sam zu treffen. Er hat nie erwähnt, dass er 2 Töchter hatte."

Nikky sah mir direkt in die Augen.

„Er wollte nicht, dass eine von uns im „Außendienst" landet. „Zu gefährlich" sagte er immer. Aber eigentlich hatte er wohl viel zu sehr Schiss davor, sich angreifbar zu machen."

Ich wusste, was sie meinte. „2 hübsche Töchter hast du da. Wär ja eine Schande, wenn ihnen etwas zustößt" versuchte ich meine beste Robert-DeNiro-Imitation.

„So in etwa." Der Anflug eines Lächelns, dann Wehmut. Sie dachte wohl gerade an Rachel. Was wäre gewesen, wenn sie sich nicht für den Kreuzzug gegen ihren Vater entschieden hätte? Würde sie jetzt noch leben? Wahrscheinlich. Und wieviel wusste Nikky? Das würde ich zu einem späteren Zeitpunkt herausfinden.

Der Kellner brachte unsere Getränke. Ich starrte ihm nach, während er die Treppen nach unten verschwand.

„Wie kam es zur Erfindung von Jimmy?" riss Nikky mich aus meiner Gedankenwelt.

„Naja, ich hatte da die eine oder andere Idee, die ich Mr. DeLaggio vortrug. Verschiedene Varianten bei Aufträgen, alternative Ziele, sowas in der Art. Einige dieser Ideen gefielen Mario offensichtlich. Und so ließ er mich ein paar Aufträge planen und durchführen. Zu dem Zeitpunkt fingen wir auch damit an, mich als Informanten bei der Polizei einzuschleusen. Ich kannte Jim Stentson von der Schule, und er mochte mich. Er wusste, dass ich bei DeLaggio arbeitete, aber nicht, in welcher Position. Darum kamen DeLaggio und ich zu der Überzeugung, wir bräuchten einen Trick, eine Ablenkung. Ich konnte ja kaum der kleine Fisch sein, für den Jim mich hielt und gleichzeitig Mr. DeLaggios Auftragsplaner. Darum erfanden wir Jimmy, streuten ein paar Gerüchte über ihn in die Welt. Ich war offiziell Jimmys Zuträger, und gleichzeitig Jims Informant. Ich lieferte ihm ein paar kleinere Gangster, die uns im Weg standen, dafür schaute auch keiner so genau hin, was ich ansonsten tat."

„Ein schmaler Grat."

„Aber ein sehr interessanter. Und ich liebte das Risiko."

„Wie haben Sie Rachel kennengelernt?"

„In einer Bar, oder viel mehr einem Pub. Ich spielte nebenbei in einer Band, und hin und wieder spielten wir dort alte irische Folk-Songs. Ihr roter Haarschopf fiel mir sofort auf, als sie den Raum betrat. Sie suchte sofort Augenkontakt und ich hielt ihn und spielte und sang weiter. Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber der Raum um uns verschwand, die Leute zwischen uns verschmolzen einfach mit dem Hintergrund. Nach dem Auftritt hab ich mir 2 Guinness geschnappt, ihr eins davon in die Hand gedrückt und sie angesprochen."

Ich konnte mich so gut an jedes Detail dieses Abends erinnern. Die Gerüche, die Hintergrundgeräusche, Rachels grüne Augen, die trotz der eher spärlichen Beleuchtung geleuchtet hatten. Die Überraschung in ihrem Blick, danach das Lächeln, als ich ihr das Pint in die Hand drückte und damit genau ihren Geschmack getroffen hatte. Ich musste kurz innehalten, blickte zu Nikky und stellte fest, dass sie feuchte Augen bekommen hatte.

„Entschuldigen Sie bitte, " Sie nahm ihre Fake-Brille ab und trocknete sich mit einer Stoffserviette die Augen, „aber das passt alles so gut zu Rachel. Ich kann mir direkt vorstellen, wie sie in der Bar steht und jeden einzelnen Ton der Musik aufsaugt. Sie hatte eine echte Schwäche für Folk-Songs. Und Guinness."

„Die hatte sie wirklich."

„Wie ging es weiter?"

„Nun ja, wir verstanden uns auf Anhieb, quatschten bis früh am nächsten Morgen. Wir machten direkt mit Frühstück weiter, und von da ab sahen wir uns beinahe jeden Tag. Wenig später ist sie dann direkt bei mir eingezogen."

„Wusste sie da schon, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienten?"

Ich nickte.

„In dem Punkt hatte ich ihr nie etwas vorgemacht. Sie wusste, für welche Leute ich arbeitete, schien damit aber kein Problem zu haben. Trotz des Jura-Studiums."

Konnte ich Nikky schon von den wahren Beweggründen ihrer Schwester erzählen? Ich entschied mich dagegen. Das müsste bis später warten.

„Oder vielleicht genau deswegen. Wenn Rachel etwas war, dann neugierig. Vielleicht wollte sie das Innenleben einer kriminellen Organisation verstehen lernen. Vater hat immer gehofft, dass sie doch eines Tages für ihn arbeiten würde."

„Wer weiß das schon so genau? Die DeLaggios waren Anfangs nicht sehr angetan davon, dass ich mit einer angehenden Anwältin oder Richterin zusammenlebte. Sie hatten Bedenken."

„Verständlicherweise. Was hat ihre Meinung geändert?"

„Sie haben gesehen, sie sehr sie mich zu Höchstleistungen antrieb. Meine Pläne wurden besser, und mit dem Wissen von Rachel gelang es uns, ein paar interessante Schlupflöcher in diversen Gesetzen zu finden."

„Worum ging es bei diesen Schlupflöchern?"

„Das ist nicht mehr wichtig."

„Sie half also dabei mit, DeLaggios Imperium zu festigen."

„Und das nicht zu knapp."

„Warum musste sie dann sterben?"

Bevor ich mir eine einigermaßen unverfängliche Antwort überlegen konnte konnte, wurden wir beide durch einen lauten Knall aus unseren Gedanken gerissen. Eines der Fenster im Erdgeschoss des Bistros zerbarst. Sekunden später flogen 2 Molotov-Cocktails durch das neu entstandene Loch. Weite Teile des Eingangsbereichs fingen sofort Feuer. Von draußen ertönte zudem das Geknatter von Maschinenpistolen. Ganz wie in alten Zeiten. Einige der Gäste konnten sich noch rechtzeitig in Sicherheit ducken, andere hatten nicht so viel Glück.

Und wir saßen auf unserer Empore in einer todsicheren Falle.


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Es wird heiß ;) Und ja, ich weiß, es ist einfach nur gemein, ein Kapitel SO zu beenden. Aber keine Panik, Kapitel 13 kommt auch gleich. Schließlich bin ich kein totales Monster ;)

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