„Hng!" Yuna spürte etwas feuchtes, kaltes an ihrer Wange. Sie hob ihre Hand und versuchte es wegzudrücken.
„Sch ... ganz ruhig, Schatz." Die Stimme ihrer Mutter.
„Mutter? ..."
„Es ist alles gut."
Das Mädchen versuchte Luft zu holen, doch sie konnte kaum atmen. „Luft ..."
„Es dauert nicht mehr lange."
Die Jägerin riss ihre Augen auf und erblickte ihre Mutter, die mit einem Lappen ihr Gesicht reinigte. Sie schüttelte sich unter einem heftigen Hustenanfall und schnappte erneut nach Luft.
„Was ist los?", krächzte sie angestrengt.
„Du bist dabei zu sterben."
Ängstlich schüttelte das Mädchen seinen Kopf. „Nein ... ich kann nicht ..."
„Es tut mir leid, Schatz."
Yuna blickte an ihrer Mutter vorbei und entdeckte ihren Vater, der Ayu auf dem Arm hielt. Er hob die Hand zum Gruß. „Ich darf nicht sterben."
Kaori lächelte matt. „Ich befürchte, du kannst dir das nicht aussuchen."
Die Blauhaarige kämpfte sich keuchend in eine sitzende Haltung hoch. Ihr ganzer Körper schmerzte und war schwer wie Blei. Was geschah mit ihr? Sie wurde von Tirr vom Dach gerissen und war aufgeschlagen.
Flehend blickte sie ihre Eltern an. „Bitte ... helft mir."
„Wir können nichts tun, Schatz."
„Ich will nicht sterben."
Mai spähte hinter den Beinen ihres Vaters hervor. „Papa, darf ich jetzt mit Yuna spielen?", fragte sie vorsichtig.
Er streichelte dem kleinen Mädchen über den Kopf. „Noch nicht. Gedulde dich noch ein wenig."
„Menno."
„Spiel in deinem Zimmer, Mai."
„Ja, Papa." Das Kleinkind begab sich in den Flur zurück.
Yuna sah sich um. Sie befand sich in ihrem Wohnzimmer. „Ich muss zurück."
„Das geht nicht."
„Doch. Durch die Tür."
„Es funktioniert nicht. Deine Verbindung zur letzten Welt löst sich langsam auf. Du liegst im Sterben.", erklärte ihre Mutter und tupfte ihr erneut die Stirn ab.
Die Jägerin stemmte sich mühsam hoch und kam auf alle Viere. „Nein. Ich weigere mich das zu glauben."
„Du bist so stur. Genau wie dein Vater."
„Hey.", beschwerte er sich gespielt.
Kaori sah zu ihm hinüber. „Stimmt es etwa nicht?"
„Doch schon, aber ..."
Das Mädchen unterbrach die beiden. „Bitte. Helft mir."
„Was sollen wir tun?"
„Bringt mich zur Tür."
„Na gut."
Ihr Vater setzte Ayu auf dem Boden ab, welche sich hinhockte und mit großen Augen dabei zu sah, wie ihre Eltern ihrer ältesten Schwester hoch halfen.
Die Jägerin bemerkte, dass sie von Kopf bis Fuß mit Schlamm besudelt war. Allerdings waren die Flecken irgendwie ätherisch. Auch der Schmutz auf ihrer Haut war beinahe nicht sichtbar.
Sie schaute Kaori an. „Wieso bin ich so dreckig?"
„Du bist lebendig begraben worden und drohst zu ersticken."
„Und wieso sehe ich beinahe hindurch?"
Kensuke lächelte gequält. „Du hast bereits das Bewusstsein verloren und driftest immer mehr in die Welt der Toten ab."
Yuna schüttelte den Kopf. „Ich muss zurück. Ich muss aufwachen."
„Und was dann? Du wirst noch immer begraben sein und trotzdem ersticken."
„Nein. Ich werde frei kommen."
Die Blauhaarige setzte einen Fuß vor den anderen. Unter Beihilfe ihrer Eltern gelangte sie an die Tür. Gerade als sie ihre Hand auf die Klinke legen wollte, erklang eine weitere Stimme hinter ihr.
„Was tut ihr da?"
Das Mädchen traute ihren Ohren nicht. Sie drehte ihren Kopf und erblickte Yoshiro im Küchendurchgang. Er erschien in seiner menschlichen Gestalt. Es gab keinen einzigen Hinweis darauf, dass er ein Oni gewesen war. „Y-yoshiro?!", krächzte sie überrascht.
Er fuhr sich grinsend durch seine verstrubbelten Haare. „Ist noch gar nicht so lange her, oder?"
Ungläubig beäugte sie ihn. „Wie ist das möglich?"
„Ich weiß es nicht."
„Als du starbst, hast du einen menschlichen Körper hinterlassen."
Ihr „Onkel" zuckte ahnungslos die Schultern. „Dann liegt es wohl daran."
„Aber wieso?", fragte das Mädchen.
„Keine Ahnung. Was hast du vor?"
Sie nahm einen tiefen, qualvollen Atemzug. „Ich muss zurück."
Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Du bist so unnachgiebig. Du bist so gut wie tot. Es besteht keine Chance, dass du das überlebst."
„Ich kann alles schaffen!"
Yoshiro schaute sie einen Moment lang an. Dann nickte er. „Na gut. Versuch es. Wenn es jemanden gibt, der so etwas zustande bringt, dann bist das du."
Der ätherische Schmutz verblasste immer mehr. Die Jägerin legte ihre Hand auf die Türklinke. Mit zusammengebissenen Zähnen drückte sie die Klinke, doch diese wackelte nur leicht.
„Nein." Sie griff mit beiden Händen zu und drückte mit aller Kraft. Die Klinke senkte sich ein wenig mehr, aber es reichte noch nicht, um die Tür zu öffnen. „Komm schon." Tränen traten in die Augen der Jägerin. Aufgebracht rüttelte sie am Metallgriff.
„Es tut mir leid, Schatz.", hauchte Kaori.
Kensuke legte der Blauhaarigen die Hand auf die Schulter. „Lass es gut sein, Yuna."
„Nein! Ich muss zurück! Ich muss zu Yui und Wataru! Ich darf sie nicht im Stich lassen!" Wie eine Irre riss die Oberschülerin weiter an der Klinke.
Ihre Mutter begann ihre Wange zu streicheln. „Es liegt nicht in deiner Macht."
Yuna schüttelte die Hand ihrer Mutter ab. „Das glaube ich nicht."
Sie ließ sich zu Boden fallen und hing mit ihrem ganzen Körpergewicht an der Klinke. Die Schmutzflecken auf ihrer Kleidung waren fast vollständig verschwunden. Sie hatte wieder weniger Mühe mit atmen.
Schnell stand das Mädchen auf und griff wieder nach der Klinke. Ihre Eltern und ihr Onkel schauten ihr schweigend dabei zu, wie sie weiter kämpfte.
„Du wirst jeden Moment sterben, Yuna.", prophezeite Yoshiro ruhig.
„Halt den Mund!"
Sie konnte es selber fühlen. Die ganze Last des irdischen Lebens glitt langsam von ihr ab. Aber sie war nicht gewillt das hinzunehmen. Die Flecken verschwanden allesamt. Yuna zuckte zusammen. Sie konnte fühlen, wie sie wahrscheinlich gerade gestorben war.
„Nein. Nein! Das akzeptiere ich nicht!" Sie begann wieder an der Klinke zu reißen. „Ich kann nicht tot sein. Ich bin unbesiegbar!"
„Niemand ist unbesiegbar.", erklärte Yoshiro sachlich.
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn aus tränenden Augen aufgelöst an. „Das ist nicht fair!"
Schuldbewusste lächelte der „Onkel". „Ich weiß. Es tut mir sehr leid."
„Das ist nicht fair! Ich habe alles gegeben! ALLES!", schrie das Mädchen. Ihr Mentor nickte mitfühlend. Aufgebracht strich Yuna ihren Pony zur Seite. „Es muss einen Weg geben. Ich muss zurück!"
„Ich wüsste nicht wie.", gestand ihr Vater.
„Geht mir aus dem Weg!"
Die Jägerin stürmte ins Wohnzimmer. Ihre Eltern blickten ihr unbehaglich hinterher. Das Mädchen kam mit dem Katana angerauscht und holte aus. Voller Wucht schlug sie gegen die Tür.