Jade:
Mein erster Gedanke war, als ich auf den Bildschirm meines PC starrte, genau dieser: Welcher Stalker hatte meine E-Mail Adresse? Meine Aufregung verzog sich sofort, als ich las, von wem die Mail stammte und ich rollte mit den Augen, der Stalker wäre wesentlich spannender gewesen! Natürlich war ich in der letzten Deutschstunde nicht anwesend gewesen, aber dort mussten sie anscheinend schon bestimmt die E-Mail Adressen aufgeschrieben und der deutschen Schule gesendet haben. Vermutlich hatte Lara meine Adresse verraten, da mir sonst keiner spontan einfiel, der von unserer Schule meine E-Mail Adresse hatte und ja, der Streber hatte sie nur wegen einem Projekt, dass ich mit ihr hatte machen müssen.
Ansonsten schrieb ich nur per Whatsapp, denn ganz ehrlich: E-Mails schreiben war genauso langweilig wie Briefe zu verfassen, bei den SMS oder Nachrichten konnte man wenigstens Emojis hinzufügen und so nicht einen Roman schreiben, wie man sich fühlte. Natürlich konnte man auch auf der Tastatur es so hinbiegen, das am Ende auch Smileys auf dem Display standen, aber auf diese umständliche Art und Weise hatte ich keinen Bock. Ich lehnte mich in meinem Schreibtischstuhl für ein Weilchen zurück, beobachtete gelangweilt die Decke, bevor plötzlich ein Grinsen meine Lippen umspielte, da ich eine Idee hatte. Diesen Kommentar würde sie nicht kommen sehen! Ohne weiter nachzudenken, tippte ich drauflos, lies einfach meinen Gedanken freien Lauf und war Sekunden später zufrieden mit meinem Ergebnis, bevor ich auf „Senden" drückte:
„Keine Ursache, Süße ;). Hab auch haufenweise Lehrer, die mir das Leben zur Hölle machen und nicht locker lassen, bis der Mist gegessen ist. Und zum letzten Satz: Dito ;) - xoxo Jade"
Ja, ich konnte es einfach nicht lassen, solche frechen Kommentare von mir zu geben, ich liebte es einfach, egal ob Junge oder Mädchen, den Kopf zu verdrehen, obwohl ich mir zu hundert Prozent sicher war, dass ich hetero war. Ich legte meine Beine auf den Tisch und lehnte mich zurück, den Blick angestrengt auf den Bildschirm gerichtet.
Nach 10 Minuten verlor ich die Geduld und drückte diese Emotion mit einem genervten Seufzer laut aus. Wann schrieb dieses Mädchen aus Deutschland mal endlich zurück? Ich wollte ihre Reaktion einfach sehen, meistens hatte es geheißen: „Äh, ja klar..." oder auch: „Ich hab einen Freund, du Lesbe!" Letzteres wusste ich nur mit einem scharfen Kommentar zu kontern und Ersteres von beidem war einfach nur ein Ansporn für mich, weiterhin dieses Mädchen zu ärgern. Als etwas aufblinkte, erkannte ich die Nachricht und las sie sofort: „Ok, war das ein Ansporn, einfach mal weiter zu schreiben? Da bist du nicht die Einzige, die das bei mir versucht ;). Oh und eines noch: Gehe ich also davon aus, dass wir weiterschreiben werden? – Macy"
Ich legte meinen Kopf zur Seite und wieder glitt mein Blick ins Leere, wir waren quitt, denn mit so einer Antwort hätte ich nie gerechnet. Sonst war keiner so mutig mir gegenüber... Jedoch war es möglich, dass sie vielleicht in Wirklichkeit völlig anders und nur online so direkt war? Ich hatte schließlich noch keine Ahnung, mit wem ich es hier zu tun hatte. Ihren Namen kannte ich nun, aber ich musste noch wissen, wie sie tickte und welche Schwächen sie hatte. Oder zu welchen schlechten oder auch guten Angewohnheiten sie neigte. Ja, erst dann würde ich es schaffen, sie zu dem zu bringen, was ich wollte. Denn ich konnte weder eine Quasselstrippe noch einen introvertierte Stubenhockerin in meiner Nähe ertragen und sie sollte mich mit dieser gespielten Freundlichkeit bloß in Ruhe lassen!
Ebenfalls war ich nicht zum „Lernen" in Deutschland, sondern um das Beste aus diesem aufgezwungenem Austausch zu machen. Okay, was konnte man aus einem „Lernausflug" der Schule machen? Es würde besonders schwer werden, da gerade zwei meiner verhassten Wörter in diesem Satz waren. Ich musste mich einfach erst einmal auf diese blöde Kennenlernen-Sache einlassen, bis ich einfach dort hinreisen und sie persönlich sehen würde.
„So viele Fragen für einen einzigen Chat... Zerbreche dir mal nicht deinen hübschen Kopf darüber, natürlich schreiben wir weiter ;)- Jade"
Okay, dieser Strichpunkt mit Klammer wurde mir zu öde. Sollte ich einfach nur einen Doppelpunkt und einen Stern dahinter schreiben? Urgh, genau deswegen hasste ich es, E-Mails zu schreiben! Wo war der schmunzelnde Smiley, wenn man ihn brauchte? Ich schüttelte den Kopf, Schluss mit dieser gefälschten Nettigkeit, ich war raus! Je weniger Mails, umso weniger Kopfzerbrechen. Das war fast dasselbe wie mit der Schule, umso weniger davon, umso weniger Stress. Ich schaute auf den Stapel Übungsaufgaben für die nächste Englischarbeit, sollte ich ernsthaft in Erwähnung ziehen, mir diesen Mist auch noch anzutun? „Vergiss es!" Dachte ich nur abfällig. Die Hälfte der Arbeit konnte ich eh schon aus dem Effeff. Deswegen fand ich es auch nutzlos, in den Deutschunterricht zu kommen, da mein Vater aus Deutschland kam und ich jedes Statement von Mama manchmal nochmal in Deutsch für Papa wiederholen musste. Ich war einfach ein Ass in Sprachen, egal in welcher.
Kurzerhand schnappte ich mir meine Tasche und warf rücksichtslos mein Handy, Lippenstift, meine Ray Ban Sonnenbrille und meinen Geldbeutel hinein. Danach verließ ich, achtlos die Tür hinter mir zuschlagend, das Haus und nahm mein Handy heraus. „Treffen beim Gelatini?" Schrieb ich innerhalb von Sekunden und erhielt auch in dieser Zeit wieder eine Antwort: „Okay, also bis dann, chica ;)" Ich rollte mit den Augen über diese „versteckte" Art und Weise, wie Valentina versuchte, mich zu imitieren. Bald konnte man sie nicht mehr beste Freundin, sondern eher Anhängsel nennen! Aber was anderes war ich immerhin nicht gewohnt.
Wenn jemand nicht gerade von meinen Modekenntnissen Bescheid wissen wollte, dann würde die Person lieber mit mir befreundet sein oder träumte davon... Okay, igitt, ich wollte nicht wissen, was diese Perverslinge über mich träumten! Teils spielte ich zwar gerne mit dem Verstand anderer, aber ich wusste, wann ich den Schlussstrich für sie ziehen konnte. Gott, zum Glück, sonst würde aus mir ja einer dieser billigen Schlampen werden! Und würde mich nochmal einer Barbie oder Püppchen nennen, bekam er das, was er verdiente: Einen Tritt ins unglamouröse und asoziale Abseits.
Macy:
Gleich nach diesem...okay, Flirt würde ich es nicht unbedingt nennen, ging Jade auch schon wieder offline und trotz meiner vielen Mails antwortete sie nicht. Ich rollte mit den Augen. Na toll, da hatte ich es schon wieder mit so einer zu tun. Kanntet ihr diesen Spruch: Tötet es, bevor es Eier legt? Genauso ausgestorben sollte diese Art von Zicken mittlerweile sein! Und nein, ich dachte nicht daran, wirklich eine Hexenverbrennung zu vollziehen. Ich hatte mir einfach eine normale, nette Austauschschülerin gewünscht und war enttäuscht genug, um solche verrückte Gedanken zu denken. Und was oder wen ich nun hatte, war ich mir kaum bewusst, da sie mir die komplette Chance genommen hatte, weiteres über sie herauszufinden. „Okay, schön, was du kannst, kann ich schon lange." Dachte ich mir, bevor ich auch schon meine Hand in die Höhe zu strecken, um zu signalisieren, dass ich mich meldete.
„Kann ich einmal kurz auf die Toilette?" Der Blick meiner Französischlehrerin sprach Bände. Er entsprach der Säure einer Zitrone und trotz der Kälte in ihren Augen meinte sie mit gekünstelter Freundlichkeit: „Gut, du kannst gehen." Ich warf ebenfalls ein gespieltes und falsches Lächeln zurück, bevor ich aus der Tür lief, direkt in Richtung Klo. Ja, ich hielt in dieser Sache mein Wort, da mir dieser Ort Vorteile verschaffte. Erstens kam keiner hinein, bis der Unterricht beendet wäre und zweitens konnte ich endlich meine Lieblingsgeschichte auf Handy so zu Ende zu lesen. Sie stammte von einer gewissen (oder einem gewissen) Destiny's Fault. Ich musste immer wieder grinsen, wenn ich den Nickname übersetzte: „Schuld des Schicksals". Ich lehnte mich gegen die Trennwand der Kabine und las ganz in dem Buch versunken:
Sie stand einfach an der Reling des Schiffes, warf einen Blick das Blau, das dieselbe Kälte wie ihre Augen ausstrahlte. Kunststück, wenn man blaue Augen besaß, vielleicht beeinflusste sie durch nur einen einzigen Blick die Welt, ihr alles zu geben, was sie wollte. Vielleicht lag aber hinter diesen kalten Augen mehr, als es jemand je aus ihr herauslesen konnte. Augen waren die Fenster zur Seele? Vielleicht war es bei ihr anders oder sie hatte ihre Ray Ban nicht nur dazu benutzt, um cool zu wirken. Vielleicht hatte sie einfach ihre Gefühle, ihr wahres Ich verstecken wollen. Ja, vielleicht, ein Wort, das einzige, was sie beschrieben, niemand war bei ihr sicher. Man würde hinter diesen dunklen Brillengläsern, hinter diesen Augen mit den Farben des Ozeans niemals die Seele sehen, die wie ein kleines Feuer, wie ein Tornado wütete, so voller Aussagekraft und doch bis heute ignoriert und ungehört.
Mir blieb die Spucke weg, wie kam man denn bitte auf solche Worte? Wer besaß so viel Geduld alles ins kleinste Detail zu schreiben und so eine Art und Weise, das zu beschreiben? Ich hätte wahrscheinlich nur „Hinter ihrer Maskerade steckt jemand völlig anderes." hingeschrieben. Trocken, kurz und mal wieder völlig fantasielos. Ich hatte manchmal einfach keine Lust, in Deutsch so ausführlich zu schreiben. Dagegen fiel mir es wesentlich leichter, in meiner Muttersprache Songtexte zu verfassen. Und ja, Ladies und Gentlemen, falls ihr es noch nicht schon an meinem ach so deutschen Namen erkannt hattet: Ich stammte aus Kanada.
Es mussten nur zwölf Jahre seit meiner Geburt vergehen, dann waren wir nach Deutschland umgezogen, wegen Dads Beförderung. Hrmpf, bis heute hatte ich mir eigentlich gewünscht, dass er das Angebot abgesagt hätte und ich mich wieder mit meinen Freunden Robyn und Jasmin treffen könnte, aber nein... Meinen Vater zog es nur so in das ferne und „faszinierende" Deutschland. Toll, das einzig „Faszinierende" hier war, wie sie einfach unsere gesamten Werbegags nach einander abkauften und dass ich mir dasselbe nervige Lied der Kaugummiwerbung hier auf Deutsch anhören durfte. Die einzig positive Sache an unserem Umzug war bisher Rebecca gewesen.
Seit ich dieses Mädchen getroffen hatte, hatte sie mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt: Plötzlich war ich unkonzentriert, aß bald nichts mehr und immer, wenn ich eine romantische Schnulze sah, hatte ich mir einfach gewünscht, dass sie mich auf diese Art und Weise in ihren Armen halten könnte. Ein Mädchen mich halten? Ich selbst hatte mich erschrocken, als ich gemerkt hatte, dass ich vielleicht doch nicht so hetero war, wie ich es immer von mir gedacht hatte. Die Alarmglocken liefen bei mir im Uhrzeigersinn, wann immer dieses scheiß Gefühl eintrat, also fast die ganze Zeit! Und trotzdem schaffte sie es immer wieder, immer die Grenze von Freundschaft zu mehr in meinem Kopf zu überqueren. Irgendwann hatte ich es mir selbst eingestanden: Ich war in Rebecca verknallt und deswegen möglicherweise lesbisch...
Möglicherweise, haha, das war eher die traurige Wahrheit, obwohl ich es niemals laut aussprechen würde. Was würden denn die anderen von mir denken? Genau diese Frage flog mir 24/7 durch den Schädel und sie wollte genauso wenig raus, wie meine beste Freundin aus meinem Herzen, aus welchem Grund auch immer.
Kaum war ich zuhause, setzte ich mich wieder in den Aufnahmeraum im Keller und holte meinen Notizblock hervor. Ich hatte wieder dieses Gefühl, etwas Neues schreiben zu müssen. Nur hatte ich im Moment weder eine passende Melodie, noch einen passenden Text. Plötzlich wanderten meine Gedanken wieder zu der Textstelle, die ich vorhin in der Schule gelesen hatte. Was wäre, wenn man die Gefühle dieser Passage auch durch einen Songtext ausdrücken könnte? Ohne weiter nachzudenken, schrieb ich los:
You may not believe
(Du magst nicht glauben)
How blind you are
(Wie blind du eigentlich bist)
What you don't see
(Was du nicht siehst)
Behind my mask
(Hinter meiner Maske)
I've got a crazy heart
(Besitze ich selbst ein verrücktes Herz)
Still untamed
(Immer noch ungezähmt)
Still ashamed
(Immer noch beschämt)
Of what you think I'd be
(Von dem, was du denkst, dass ich sein könnte)
I am still afraid
(Ich habe immer noch Angst)
Unlike how I said
(Es ist nicht so, wie ich es behauptet habe)
Can you hear me?
(Kannst du mich hören?)
Now it's time
(Es ist jetzt die Zeit)
You cross the line
(Du überquerst die Linie)
Walk behind my borders
(Gehst hinter meine Grenzen)
Break the rules
(Breche die Regeln)
Don't be unsure
(Sei nicht unsicher)
Don't follow my orders
(Folge niemals meinen Befehlen)
Then you'll see
(Dann wirst du erst sehen)
How I am
(Wie ich wirklich bin)
What I meant
(Was ich gemeint habe)
Against all my discouragements
(Gegen all meine Entmutigungen)
Es war verblüffend, wie leicht es mir fiel, wieder in dieser Sprache zu schreiben. Es fühlte sich einfach vertraut an. In Momenten wie diesen hatte ich vollständig das Gefühl, mich nicht mehr verstecken zu müssen. Und dieser Moment war auch der, in dem ich realisierte: Die unbekannte Wattpadautorin hatte mit dieser Textstelle perfekt mich selbst beschrieben...
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A/N:
Eines meiner Hobbies ist Songwriting, was sich besonders in diesem Buch zeigen wird, in dem ich meine größten Hobbies enthülle: Musik und Schreiben.
Das einzige Problem dabei ist, dass ich nie eine passende Melodie für die Songs finde :( Also ist der Text hier keine Kopie von irgendeinem Popsong, sondern auf meinem Mist gewachsen ^^
Bis dann, folks
-xoxo Alyson_Raventhorn